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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Joël Tan
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plötzlich die Frau eines halben Grafen zu sein? Wenn sie ehrlich zu sich war, nicht anders als sonst, und doch würde sich bald so vieles verändern. Vorher jedoch gab es noch einen schweren Weg zu bestreiten.
    Runa erreichte die Kurie Johanns. Werner öffnete ihr die Tür.
    »Kommt nur herein. Die Beginen sind gerade bei ihm.«
    Sie sah dem Diener ins Gesicht. Fast schien es, als hätte er sie erwartet. »Ich danke dir.«
    Werner schloss die Tür hinter Runa und blickte sie eindringlich an. Er hatte die Wahrheit schon so lange geahnt, bereits wenige Monate, nachdem Thymmo in die Kurie gezogen war. Doch er würde das Geheimnis weiter hüten, auch wenn es das Letzte war, was er für Johann Schinkel tun konnte.
    Der Blick des Dieners war so stechend, dass er Runa verwirrte. Waren es die vielen durchwachten Nächte am Krankenbett, die den Augen des Mannes jenen Ausdruck verliehen?
    Geräusche von vier Füßen, die die Stiegen hinab kamen, ließen beide aufblicken.
    Kethe war eine von ihnen. Abwechselnd blickte sie zu Runa und zu Werner. Jede Zurückhaltung war nun fehl am Platze. »Er wird bald zu Gott gerufen werden. Sehr bald!«
    Der Diener nickte, und Runa hatte alle Mühe, sich zu beherrschen.
    »Ihr guten Frauen«, sagte Werner. »Ich danke euch für eure fleißigen Hände, die Arbeit und den Trost eurer Gebete. Wenn der Ratsnotar euch noch einmal brauchen sollte, werde ich Anna oder Beke zu euch kommen lassen.«
    »Sollen wir nach dem Priester schicken?«
    »Ja.«
    Dann verließen sie die Kurie und ließen Runa und Werner allein in der Stille zurück.
    Gleichbleibend ruhig und dennoch unverkennbar traurig sagte er: »Geht nur. Ich werde hier unten auf den Priester warten.«
    Runa sah ihn an und musste kurz überlegen, ob sie richtig gehört hatte. Sie sollte allein gehen? »Ihr meint …«
    Bevor sie nachfragen konnte, ließ er sie wissen: »Der Priester wird eine Weile brauchen. Geht, und verabschiedet Euch.«
    Zum zweiten Mal an diesem Tage füllten sich Runas Augen mit Tränen. Im Vorbeigehen flüsterte sie: »Ich danke dir tausendmal!« Dann stieg sie die Stufen hinauf und öffnete schweren Herzens die Tür. Sie hatte Angst vor dem, was sie erwartete, doch ihre Befürchtungen wurden nicht bestätigt.
    Die Kammer war nicht befallen von dem Gestank des Siechtums, ebenso wenig war sie stickig oder dunkel. Stattdessen lag er unter weißen Laken, die Augen geschlossen, den Mund leicht offen. Man hatte die Fensterluke weit geöffnet, sodass das aufgehende Sonnenlicht auf die gegenüberliegende Wand fiel und sie hellrot erleuchtete. Es war ein friedlich anmutendes Bild.
    Runa setzte sich auf einen Schemel, der neben dem Bett stand. Ruhig blickte sie Johann an. Er war blass, und sein Haar war etwas wirr. Ansonsten sah er versöhnlich aus. Eine ganze Weile lang saß sie einfach nur da. Immer wieder wischte sie sich ihre Tränen fort. Sie weinte stumm. Nur gut, dass er sie jetzt nicht sehen musste, kam es ihr in den Kopf. Er würde nicht wollen, dass sie um ihn weinte; trotzdem konnte Runa nicht aufhören.
    Sie hob eine ihrer Hände und strich ihm das Haar zurück. Dabei begann sie, zu ihm zu sprechen.
    »Wo sind nur die Jahre geblieben, Johann? War es nicht erst gestern, da wir uns auf den Straßen begegnet sind?«
    Wieder erfüllte Stille den Raum. Und doch kam es Runa so vor, als hörte sie seine Stimme. Was würde sie geben, um sie noch einmal zu vernehmen? Um noch einmal zu hören, wie er ihren Namen sagte?
    Ihre rechte Hand ruhte nun auf seiner Wange. Sie war warm. »Du hast gut auf unser Kind aufgepasst. All die Jahre hast du ihn beschützt. Nun ist er zum Mann geworden und kann seinen eigenen Weg gehen. Sorge dich also nicht mehr um ihn.«
    Die Finger ihrer Hand glitten zu seinem Herzen – jene Stelle, die sie damals in seinem Pferdewagen berührt hatte. Sein Herz hatte an dem Tag vor acht Jahren fest und kräftig geschlagen, jetzt war es kaum noch zu fühlen.
    »Ich werde dich nie vergessen, Johann. Hörst du? Du wirst immer in meinem Herzen wohnen und in Thymmo weiterleben. Ich bereue nichts, das sollst du wissen. Du kannst jetzt gehen.«
    Runa nahm seine rechte Hand und legte ihre Wange hinein. So verweilend, schloss sie die Augen und weinte ohne jede Scham und Beherrschung. Irgendwann wurde seine Haut kälter. Runa wusste, sie war nun allein in der Kammer. Vorsichtig legte sie seine Hand zurück und gab ihm noch einen letzten Kuss. Ihr Kummer war so groß, dass sie nicht hörte, wie Thymmo draußen mit dem
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