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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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Hohepriester näher kam, und fragte sich, weshalb er den schweren Aufstieg ganz alleine und zu Fuß auf sich genommen hatte: den Aufstieg zum Gipfel, auf dem die Missetäter gerichtet wurden. Golgatha – die Schädelstätte – so nannten die Menschen ihn. Vor dem Kreuz hob Hannas den Blick zu Īsā. Für einen Moment sah er in dem erwachsenen Antlitz den Knaben wieder, der sich einst so anmaßend an ihn gewandt hatte, als Hannas noch der Vorsitzende des Sanhedrins gewesen war. Ein Schreiber half ihm, seinen Mantel und die wertvolle Mitznefet abzulegen, die mit weißen und schwarzen Edelsteinen verzierte Kopfbedeckung. Ein anderer reichte ihm einen Rammhammer, den der Alte kaum noch zu heben vermochte – Hannas knirschte vor Anstrengung mit den Zähnen. Er hielt kurz inne und vergewisserte sich, dass er beobachtet wurde. Als eine leichte Brise über sein Gesicht wehte, hob er den Hammer über seinen Kopf und ließ ihn dann mit ganzer Kraft auf die Gesetzestafeln krachen, die an den Füßen des Kreuzes lehnten. Die Steintafeln gingen zu Bruch, und der Schlag ließ das Holz erzittern: Īsā öffnete die Augen, und ein stechender Schmerz durchfuhr sein Rückgrat.
    Er wusste, dass er seinen Körper verlassen musste, um die körperlichen Qualen zu ertragen und nicht dem Wahnsinn anheimzufallen – aber die Erschütterungen hatten seine Trance unterbrochen. Als sich ihre Blicke kreuzten, verspürte Īsā eine noch tiefere Erschütterung – auch nach zwanzig Jahren erkannte er Hannas sofort. In seinem Zustand ermüdete ihn jede Bewegung, und er musste sich auf eine ruhige Atmung konzentrieren, bei dem Anblick des Alten begann sein Herz jedoch unwillkürlich, schneller zu schlagen. Er wandte sein Gesicht zur Seite und erblickte durch den Nebel des Schmerzes seine Mutter, ruhig und stolz. Sie war von seinen Brüdern, von Maria Magdalena und anderen Weggefährten umringt, und das beruhigte ihn. Īsā schloss die Augen wieder, um seine Gedanken im weichen Schnee in den weißen Bergen zu versenken. Er hörte den Ruf des Adlers, das Klagen der zotteligen Yaks und versank im Einklang mit dem tiefsten Mantra, das er je vernommen hatte. Er erfreute sich an den Stimmen Gayas und seiner Kinder und an den ewigen Fragen seines Freundes Sayed. So kehrte er in jenen Zustand zurück, in dem die Sinne einschlafen, aber die Vernunft wachsam bleibt. Die Gedanken werden scharfsinniger und vermögen die Mauern, die das Wissen beschützen, zu durchdringen – um das zu offenbaren, was der Geist nicht verstehen kann oder will. Īsā ließ sich fallen, und während er in Trance fiel, spürte er den Energiefluss, über den die Mönche so viel gesprochen hatten, zum ersten Mal am eigenen Leib. Als er bemerkte, dass er mit geschlossenen Augen, also mit dem sechsten Chakra oder dem dritten Auge, wie sie es nannten, sehen konnte, spürte er, wie sich sein Körper von der Erde erhob und sein Geist davonflog. Er ließ sich mittreiben – hin zu seinen im Kreis sitzenden Meditationsgefährten. Fröhlich gesellte er sich zu ihnen. Die Stimme des alten Hannas drang von weit her zu ihm durch wie ein dunkles Grollen aus der Erde.
    »Dieser Mann hat sich gegen unsere Väter versündigt!« Hannas’ harte Worte, die er wie Wurfgeschosse in die Menge schleuderte, ließen die Menschen zurückweichen. »Er hat sich versündigt an unserem Urvater Abraham und an seiner Erde! Er hat Unruhen heraufbeschworen und Anstoß erregt. Über Gesetze hat er gelacht, hat sie verletzt und gebrochen – seht nur, genauso wie sie hier vor euch liegen: zerschlagen. Aber wisset: Genauso wird er am Ende vor Gott liegen.«
    Hannas wurde geholfen, seine Kopfbedeckung und die schwarze Wolltunika anzulegen. Seine Schulterstola ließ er jedoch auf den Tafeln liegen. Alle sollten sich daran erinnern, was er im Namen und im Auftrag Gottes getan hatte.
    Als er gegangen war, nahm Judas die Stola unter den gleichgültigen Blicken zweier römischer Soldaten an sich und versteckte sie unter seinem Gewand. Zwischen dem Abend und dem darauffolgenden Morgen verließen die meisten Menschen den Ort, gefolgt von den Johannisbrot- und Gerstenbierhändlern, die ihre leeren Karren hinter sich herzogen. Die Sonne stand bereits hoch, als eine Soldatenabordnung des Tempels vor Caio Cassius trat, der gekommen war, um dem Wachwechsel beizuwohnen.
    »Was wollt ihr?«, fuhr sie der römische Centurio an.
    »Auf Befehl des Sanhedrins sollen wir den Tod der drei Verurteilten kontrollieren«, sagte der Mann,
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