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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium
Autoren: Unbekannter Autor
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verlangen sie dafür eine gewisse Gegenleistung. Seifenblasen waren die billigste Gegenleistung, die mir einfiel.
    Nachdem ich eine Seifenblase fabriziert hatte, schloß ich meine Augen, nahm wieder meine vorherige Haltung ein und blieb absolut bewegungslos, bis ich das Fallen einer weiteren Münze hörte. Dann öffnete ich die Augen, bewegte mich und blies eine weitere Seifenblase.
    Wenn ich meine Augen öffnete, sah ich vor mir viele Menschen. Menschen, die noch nie zuvor eine Person gesehen hatten, die so bewegungslos dastand. Menschen, die verwirrt waren und sich fragten, ob ich aus Fleisch und Blut oder aus Gips war. Bis ich die Augen aufschlug. Das Weiß meines Körpers war in seiner Weißheit so makellos, daß das Weiß meiner Augen vergleichsweise schmutzig erschien. Schmutzig, aber lebendig. Wenn ich meine Augen schloss, nahm ich wieder meine perfekte Reglosigkeit ein und die Menschen um mich herum, die erst einen Moment zuvor meine lebendigen Augen gesehen hatten, begannen sich erneut zu fragen, ob ich nun aus Fleisch und Blut oder aus Gips war. So perfekt war meine Reglosigkeit. Wie hatte ich gelernt, diesen Grad an Unbelebtheit zu erreichen?
Die Kunst der Reglosigkeit
    Als Kind machte ich oft das folgende Spiel: Ich baute meine Spielsachen im Kreis um mich herum auf und ließ in der Mitte einen Platz für mich selbst. So saßen wir dann zusammen. Ich sah sie mir eines nach dem anderen an, für exakt die gleiche Zeit. Ich dachte darüber nach, wie es wohl wäre, ein Ding zu sein. All diesen Gegenständen, ein Teddybär, ein Zinnsoldat, ein aufziehbarer Roboter, ein ausgestopfter Fuchs und ein Plastikfrosch, lieh ich zu gegebener Zeit meine Stimme, machte sie während meiner Kindheit vorübergehend lebendig. Ich hielt es daher nur für fair, daß ich, hatte ich ihnen doch die Möglichkeit gegeben zu erfahren, wie das Leben wohl sein könnte, im Gegenzug mit ihrer Hilfe herausfinden sollte, wie es war, ein Ding zu sein. Ich rührte mich nicht. Ich spürte, wie mein Herzschlag sich verlangsamte. Ich schloß die Augen.
    Als ich erwachsen wurde, erhielt ich eine Anstellung im Wachsfigurenmuseum der Stadt. Es war eine beliebte Arbeit, das Wachsfigurenmuseum war ein beliebter Ort. Man teilte mir mit, daß ich bei meinem Vorstellungsgespräch bewegungslos zwischen Wachsfiguren stehen mußte. Es gab fünf Bewerber auf eine Stelle. Die Arbeit bestand aus Reglosigkeit. Die Kunst, reglos zu bleiben. Man informierte uns, daß niemand eingestellt und die Stelle ein weiteres Jahr unbesetzt bleiben würde, falls keiner von uns reglos genug war. Es war eine beliebte Attraktion des Museums, das Wachsfiguren ausstellte, die vorgaben, Menschen zu sein, ebenfalls Menschen zu beschäftigen, die vorgaben, Wachsfiguren zu sein. Wenn das Publikum die Exponate sorgfältig studierte, versuchte man gern zu erraten, welche aus Wachs waren und welche aus Fleisch und Blut. Oft tippten die Besucher daneben; dies lag daran, daß die Armee der Fleischpuppen wahre Experten waren, Meister der Reglosigkeit. Wenn sich eine Figur bewegte, von der man annahm, sie sei aus Wachs, war das Publikum überrascht. Sie schnappten nach Luft und lachten dann. Dies galt als unterhaltsam. Bei dem Vorstellungstermin mußten wir beweisen, daß wir in der Lage waren, für sehr lange Zeit eine bestimmte Haltung einzunehmen. Wir fünf erhielten bei unserem Vorstellungstermin fünf Wachsfiguren als Partner. Wir trugen verschiedene Kostüme aus unterschiedlichen Epochen. Ich erhielt ein weißes Hemd mit Rüschenmanschetten, eine Kniebundhose, einen Gehrock, weiße Strümpfe, schwarze Schnallenschuhe und eine weiße Lockenperücke mit einem dunkelroten Band. Ich erinnere mich äußerst gut an dieses Kostüm, da ich es nicht nur bei meinem Vorstellungstermin im Wachsfigurenmuseum trug, sondern ebenfalls bei der Ausübung meiner anschließenden Tätigkeit dort. Tatsächlich behielt ich das Kostüm nach Beendigung meiner Anstellung und benutzte das Hemd und die Perücke (allerdings ohne das Band), während ich bewegungslos auf meinem Sockel stand. Nachdem wir kostümiert waren, führte man uns fünf zu unseren Plätzen zwischen den Wachsfiguren. Wir nahmen unsere Posen ein. Der Vorstellungstermin begann. Ein fetter Mann in einem cremefarbenen Dreiteiler kam herein, wie ich später erfuhr, war er den ganzen weiten Weg vom größten aller Wachsfigurenmuseen, dem in der Hauptstadt unseres Landes, gekommen, nur um diesen Vorstellungstermin durchzuführen. Er ging die
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