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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium
Autoren: Unbekannter Autor
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verängstigt und zerbrechlich. Er wurde gezwungen, nach draußen zu gehen. Vater holte sich einen Sonnenbrand (so wie andere Menschen sich eine Krankheit holen). Nach einiger Zeit hörte seine Frau auf, mit ihm zu spielen und er wurde ausrangiert. Seine kurze Zeit der Scheinbarkeit, der Bedeutung war vorüber, und er kehrte wieder in den Schatten zurück. Sein Sonnenbrand verlor sich.
    Vater war lebendig und nicht lebendig, Vater war tot und nicht tot, er lebte und starb reglos. Reglos. Er hielt seinen alten Körper still. Er hielt die Zeit still. Zeit ist Bewegung, Vater und Bewegung behandelten sich gegenseitig mit Bedacht. Wenn Vater in seiner aktiveren Zeit beschloß, sich zu bewegen, dann wurde diese Entscheidung erst und ausschließlich nach großem Ringen erschöpfender innerer Abwägungen in die Tat umgesetzt. Wenn sich Vater später bewegte, dann wurde er entweder von jemandem bewegt, oder aber sein Körper bewegte ihn absichtlich. Aber lassen Sie sich nicht täuschen, das war nicht Vater, der sich da bewegte, das war Vaters Körper. Gleichwohl sich diese zwei ihr Leben lang kannten, waren sie dennoch nie eins. Vaters Körper zuckte, ohne Vater vorher zu warnen. Er war ein alter, faltiger Rebell. Vater, in Vaters Körper, verfolgte mit Erstaunen, Bewunderung und stillem Schrecken die Bewegungen seines Körpers.
    Für ausgedehntere Abstecher in die Welt der Aktiven betätigten wir seine Gliedmaßen. Vater war unser persönliches erwachsenes, häßliches Püppchen. Wir zogen an seinen Fäden. Unsere Gliederpuppe aus Fleisch und Blut. Vor elf Jahren traf Vater eine Entscheidung. Vaters Entscheidung bestand darin, seinen alten Körper noch unbeweglicher zu halten als seinen jungen Körper. Deshalb lebte er auf einem Sitzmöbel. Einem großen roten, ledernen Sessel. Hätte ich ihn nicht bereits als meinen Vater vorgestellt, könnte man ihn auch »den Mann im Sessel« nennen oder »Sessel mit einem Mann«, war doch der Sessel auf den ersten Blick bedeutsamer als sein Bewohner. Und so kam es, daß der Tod Vater vergaß, wie er da in seinem Sessel hockte. Der Tod verharrte einen Augenblick vor dem sich nicht bewegenden Vater und zog dann mit der Überzeugung weiter, sein Geschäft sei bereits vollbracht. Vaters Entscheidung wurde nicht etwa aus Angst vor dem Tod getroffen. Vaters Entscheidung erfolgte aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Es war sehr zweckmäßig für einen Mann, der die Reglosigkeit liebte und in einem Zustand permanenter Trägheit in einem bequemen Sessel saß. Vaters Entscheidung erfolgte aus Liebe zur Reglosigkeit. Vater war ein Genie des Stationären. Vater war ein Rätsel.
Gleichwohl
    Gleichwohl war ich an dem Tag, als der neue Bewohner eintraf, nicht in der Lage, meine perfekte Reglosigkeit zu verrichten. Ich konnte äußere Reglosigkeit erlangen, nicht jedoch innere Reglosigkeit. Es war mir nicht möglich, mich zu konzentrieren, weil ich zu diesem Zeitpunkt wußte, daß der neue Bewohner zweifelsfrei Wohnung 18 in Besitz genommen hatte. Meine Reglosigkeit war nicht perfekt und aufgrund ihrer Unvollkommenheit fühlte ich mich elend. Ohne vollkommene äußere und innere Reglosigkeit war ich keinen Deut besser als jeder x-beliebige Straßenmusiker der Stadt. Verschlimmert wurde es dadurch, daß ich einmal, als Münzen in meine Dose fielen, die Augen öffnete, um die Seifenblasen zu blasen und dann Ivan sah, einen meiner früheren Kollegen aus dem Wachsfigurenmuseum, einer aus der stolzen Gruppe von Puppen, die halb Mensch waren und halb Wachs. Ich konnte sehen, wie sehr er sich meiner Vorstellung schämte. Als ich bei der nächsten fallenden Münze die Augen wieder aufschlug, war er fort.
    Wir halb wächsernen, halb menschlichen Puppen, die noch übrig waren, waren zu dieser Zeit bereits nicht mehr im Wachsfigurenmuseum beschäftigt. Unsere Rollen waren von elektronischen Puppen übernommen worden, die man auf lange Sicht billiger glaubte und außerdem, was für eine Schmach, für das Publikum beeindruckender hielt als uns. Die Kunst der Reglosigkeit war zu einer vergessenen Kunst geworden. Damals war es immer noch möglich, den einen oder anderen von uns auf den Straßen zu sehen, trübselig durch die Stadt streifend, hin und wieder innehaltend, um voller Neid eine Statue oder Säule zu betrachten. Mein ehemaliger Kollege Ivan mußte wohl den Eindruck gehabt haben, ich hätte meine Kunst vergessen, würde sie womöglich verraten, als sei ich eine vergangene Größe, die immer noch mitleiderregend
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