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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium
Autoren: Unbekannter Autor
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hätte ein in tristen Winterpessimismus gehüllter Tag sein sollen.
    Ich war früh auf und hatte meine Mutter, meinen Vater und mich versorgt. Ich vermute, viele Leute würde die Angst überkommen, wenn sie mit siebenunddreißig aufwachten und feststellten, daß sie mit ihren Eltern zusammenlebten. Für sie wäre es erdrückend, jeden Tag mit ihren Eltern zu verbringen; diese Menschen würden sich eingeengt fühlen, sie würden sagen, die Luft, die sie atmeten, sei vergiftet. Vielleicht würden sie ja sogar des Nachts vor ihren Betten knien, wie gute Kinder es tun, und beten, daß ihre Eltern morgens tot wären, wie böse Kinder es tun. Was auf mich nicht zutraf, war ich doch nicht unglücklich, bei meinen Eltern zu leben.
    Am Morgen des Tages, an dem der neue Bewohner zu uns kam, kauerte ich vor der Tür und wartete auf Geräusche. Stille. Um halb neun mußte ich aus dem Haus und zur Arbeit. Ich stieg die Treppe zu Wohnung 18 hinauf, die Tür stand offen, die Wohnung war jedoch leer. Er war immer noch nicht gekommen. Das einzige Leben im dritten Stock war das Wohlwollen, das aus Miss Higgs Fernseher in Wohnung 16 strömte. Ich mußte zur Arbeit.
    Die Fahrt zur Arbeit Normalerweise nahm ich den Bus, um zur Arbeit zu kommen.
    Jeder, der auf Verlangen die richtige Summe hinlegen konnte, war berechtigt, in ihm Platz zu nehmen und den recht zweifelhaften Komfort seiner schmutzigen und aufgeschlitzten Sitze zu ertragen. Der Schmutz war natürlich gefährlich für meine weißen Handschuhe und solange ich im Bus war, mußte ich sorgsam darauf achten, nichts zu berühren. Der Bus war alt, aber er bewegte sich. Er bewegte sich, allerdings nur sehr langsam. Sein Fahrer war ein junger Mann, der bestimmt bei sämtlichen Prüfungen in der Schule durchgefallen und von daher gezwungen war, sein ganzes Berufsleben jeden Tag aufs neue die Schmach ertragen zu müssen, diesen Dinosaurier von Fortbewegungsmittel zu fahren. Der Mann mußte außerdem die Schreie, das Gekicher, den Dreck, die Liebe und den Haß der Schulkinder erdulden: Der Bus war gleichzeitig der Schulbus. Wahrend der Schulzeit brachte er jeden Tag sämtliche Kinder der Gegend zu ihren Stunden der Qualen. In den Schulferien konnte man sehen, wer den Bus sonst noch benutzte. Zum Beispiel mehrere diagnostizierte Schwachsinnige. Unter diesen befand sich Michael, ein Riese von Mann und einfühlsamer, so glaubte ich, als die anderen. Michael beobachtete ständig, er musterte jeden einzelnen seiner Mitreisenden, taxierte sie mit seinen hellblauen Augen. Die Schwachsinnigen besuchten ebenfalls eine Schule, eine andere Art von Schule. In dieser Schule lernten sie weder Geschichte, Sprachen, Mathematik noch Naturwissenschaften. In dieser Schule lernten sie, glücklich zu sein, zu lächeln, ihre digitalen Armbanduhren zu lesen und sich vor allem keine Sorgen zu machen. Die übrigen Fahrgäste waren im wesentlichen alte Männer und alte Frauen, bisweilen Ehepaare, meistens jedoch nicht. Die Alten waren unterwegs zu einem Ausflug in die Innenstadt, wo sie unter blinkenden Neonreklamen in Cafes sitzen würden, um verwirrt der geistlosen Musik zu lauschen, Tee und Kaffee zu schlürfen und seufzend den Kopf hängenzulassen. Zwei andere Fahrgäste fand ich noch bemerkenswert. Der erste war ein kleiner Junge mit hellblonden Haaren, der immer von seiner dunkelhaarigen Mutter begleitet wurde (gleichwohl sie kaum Beachtung verdient und leicht vergessen werden kann). Der Junge trug eine Brille, und eines der Gläser war abgeklebt, so daß man nicht hindurchsehen konnte. Grund dafür war das Schielen des Jungen. Indem er nur das schielende Auge benutzte, sollte sich dieses Auge gewissermaßen von selbst wieder in Ordnung bringen. Ich glaube nicht, daß es funktionierte. Der andere Fahrgast war ein Mann in den Vierzigern, der sehr schüchtern war. Dieser Mann war Dichter, er schrieb wunderschöne Oden an Bäume, Blumen und Tiere, die er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Er erinnerte sich ihrer mit Hilfe von Photos, die er in der Stadtbibliothek fand. An der Stadtbibliothek würde der Bus ihn absetzen. Und mich ebenfalls.
    Der Tag der Ankunft des neuen Bewohners fiel in die Schulzeit, und so war der traurige Bus voller Kinder. Einige der Kinder waren zwangsläufig Mädchen. Und nicht weniger zwangsläufig pubertierten einige dieser Mädchen. Normalerweise saßen sie beim Busfahrer, stierten seine behaarten Arme an und schwatzten mit ihm, hoben ihre Röcke, brachten ihn zum Lachen
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