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Das verletzte Gesicht

Das verletzte Gesicht

Titel: Das verletzte Gesicht
Autoren: Mary Monroe
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Wir werden nicht allein sein. Ich liebe dich.“ Sie küsste ihrer Mutter die eingefallenen Wangen.
    Helena straffte sich, tätschelte ihr den Arm und schob sie sacht von sich. „Zieh dich besser an. Hübsch, ja?“
    Charlotte wich rasch zurück. „Hübsch …“, wiederholte sie, gekränkt von dem Wort. Sie zog das Kleid über den Kopf und stöhnte, als die enge Taille ihr die Brüste quetschte. Entweder war das Kleid eingelaufen, oder ihr Busen war üppiger geworden, denn der Stoff presste ihn zusammen.
    „Das kannst du nicht tragen zu Party!“ entschied ihre Mutter missbilligend.
    „Scheint ein bisschen eng zu sein, ich weiß …“ Charlotte versuchte den Stoff über der Brust zu weiten.
    „Ein bisschen? Ich kann sehen deine … du weißt schon.“
    „Was?“ Charlotte drehte sich um und betrachtete sich im großen Spiegel. Das Kleid umschloss ihren großen schlanken Körper wie eine zweite Haut und hob ihre vollen Brüste üppig hervor.
    Ihre Mutter zeigte errötend auf sie. „Da, die Spitzen. Sie stehen vor – wie Kleiderhaken!“
    Charlotte lief rot an. Ihre Brustspitzen malten sich tatsächlich deutlich durch den Stoff ab. Sie zog die Schultern ein, doch das half nichts. Ihre Brüste ließen sich nicht verbergen. Charlotte seufzte. Warum musste sie so üppig ausgestattet sein? Der Busen war voll und die Taille schmal, eigentlich eine Traumfigur, um die sie von vielen beneidet wurde.
    „Zieh was anderes an.“
    „Ich habe nichts anderes, außer meinem Kirchenkleid. Und das alte braune Ding werde ich nicht zu einer fröhlichen Party tragen. Ich gehe nicht hin.“
    „Du gehst. Eine Jacke vielleicht, um dich zu bedecken. Es ist Sünde zu provozieren.“
    Provozieren war das Letzte, was sie wollte. Sobald sie eine schwarze Jacke über das anstößige Kleid gezogen hatte, entspannte sich ihre Mutter sichtlich und nickte zufrieden.
    „Das geht. Du kannst gut Jacke tragen wie dein Vater.“
    „Ich hoffe, er hatte nicht solche Brüste“, murmelte sie.
    „Sprich nicht so von deinem Vater. Er war ein feiner Mann, ein feiner Mann“, wiederholte sie und strich sich den Pullover glatt wie gesträubtes Gefieder. „Er stammt aus einer vornehmen Familie in Warschau. Was für ein großes Haus sie hatten! Und Diener. Und seine Mutter, was für eine Lady. Diese Frau musste nie einen Finger rühren.“
    Charlotte wandte sich ab und schlüpfte aus der Jacke. Sie passte nicht zum Kleid, aber wie immer würde sie sich damit begnügen. Sie hatte sonst nichts. Sie waren arm und waren es immer gewesen. Was hatte es für einen Wert, einer Familie zu entstammen, die mal reich gewesen war? Es war nur ein Märchen.
    „Du ähnelst deinem Vater sehr“, fügte ihre Mutter wehmütig hinzu, glücklich in ihren Erinnerungen.
    „Aber ich sehe nicht aus wie er.“
    „Woher weißt du, wie er aussah?“
    Charlotte zuckte die Achseln. Schon als Kind hatte sie es merkwürdig gefunden, dass es keine Fotos ihres Vaters gab. Alle Mitschüler hatten Alben mit Familienbildern. Sie hatte nichts.
    „Du hast mir gesagt, er sah gut aus.“ Das war eine Herausforderung.
    „Du bist so klug wie er“, lenkte ihre Mutter ein und zupfte sich den Pullover zurecht. „Und du hast seine Nase. Eine kräftige, noble Nase. Und du hast meine Augen, die Augen deiner Großmutter Sophie.“
    Charlotte hörte zu und ließ den Blick im Spiegel von den vollen Brüsten über schmale Schultern und einen schlanken Hals zum Gesicht wandern. Sie litt oft unter ihrem Anblick und war einen Moment verblüfft. Sie hatte die großen, strahlend blauen Augen ihrer Mutter unter fein geschwungenen Brauen und die lange schmale Nase des Vaters. „Aber von wem“, fragte sie bitter, „habe ich dieses extrem fliehende Kinn und die hängenden Lippen? Wem darf ich für diese feinen Merkmale danken?“
    „Schsch, Charlotte!“ flehte Helena mit fahlem Gesicht. „Du hast dein Aussehen von Gott.“
    Charlotte schluckte ihre Erwiderung und senkte den Kopf, beschämt über ihren Zorn auf Gott. Außerdem wollte sie ihre Mutter nicht mit nutzlosem Ärger aufregen. Welche andere Wahl blieb ihr schon, als die Hässlichkeit der einzigen Tochter als gottgewollt hinzunehmen? Sie selbst betete jeden Tag darum, ihre Hässlichkeit akzeptieren zu können.
    „Eines Tages“, begann ihre Mutter den Satz, der in diesem polnisch katholischen Haushalt geradezu ein Gebet war, „wirst du jemand kennen lernen. Einen netten Mann, der dich für all deine guten Eigenschaften liebt. Denn du bist
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