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Das verletzte Gesicht

Das verletzte Gesicht

Titel: Das verletzte Gesicht
Autoren: Mary Monroe
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krumm war, sackte noch ein wenig mehr zusammen vor Erleichterung, weil ihr einziges Kind sicher heimgekehrt war. Mit siebenundvierzig war Helena Godowskis Gesicht so blass, durchscheinend und von Linien durchzogen wie altes Porzellan. Allerdings war sie stark genug, einen großen Porzellanschrank zu heben. Und ihre Körperkräfte verblassten noch im Vergleich zu ihrem eisernen Willen.
    „Ich weiß, ich weiß. Tut mir Leid.“ Charlotte beeilte sich, ihre Mutter zu beschwichtigen. „Die Proben heute waren verrückt, und ich musste bleiben, bis alle den Text konnten. Vor einer Premiere ist das immer so.“ Sie fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und schüttelte es aus. „Ich bin erledigt. Ich glaube, ich gehe früh zu Bett.“
    „Zu Bett? Unmöglich!“ Helena hob den blau-rosa Plastikbehälter, den sie unter dem Arm trug. „Heute Abend ist eine schöne Party!“ Ihre Augen strahlten. „Ich habe mein Make-up geholt. Wir werden etwas Schönes ausprobieren.“
    „O nein!“ stöhnte Charlotte und kniff entsetzt die Augen zusammen. Ihr Magen rebellierte, und sie hatte keinen Appetit mehr. „Die Büroparty. Die hatte ich total vergessen. Mom, ich bleibe lieber zu Hause. Heute läuft
A Christmas Carol
im Fernsehen, die alte Verfilmung mit Alastair Sim. Die beste. Und ich bin so müde.“
    „Filme!“ grummelte Helena. „Immer nur Filme und Theaterstücke. Du bist nur Zuschauer, Tag und Nacht. Nie gehst du aus. Nur in dieses alberne Theater, das dir nicht genug bezahlt für das Fahrgeld. Das ist nicht gut für dich. Du musst leben in richtiger Welt. Du kannst dich nicht immer verstecken in deine Zimmer. So findest du nie eine Mann.“ Helena beugte sich herab, hob Charlottes Sachen auf, faltete sie und stapelte sie ordentlich auf dem Bett.
    „Ach Mama, ich finde auch auf der Weihnachtsparty vom Büro keinen Mann. Da findet man höchstens Betrunkene.“ Schaudernd rieb sie sich die Arme bei der Aussicht auf eine weitere endlose Party mit spitzen Bemerkungen. „Also gut, ich gehe“, gab sie nach, als sie Helenas Enttäuschung bemerkte. „Aber nur, weil Mr. Kopp ein Memo geschickt hat, das uns alle zur Anwesenheit verpflichtet.“
    „Dein Boss wird nicht zulassen, dass Party wird zu wild. Du wirst dich amüsieren. Mach dir keine Sorgen.“
    Gerade ihr Boss, Lou Kopp mit den „flinken Händen“, war bei allen Frauen Anlass zur Sorge. „Ich versuche mich zu amüsieren“, versprach sie resigniert. „Falls ich etwas zum Anziehen finde.“ Sie suchte im Schrank, der voll gestopft war mit alten Schuhen, abgetragenen Kostümen und einer Sammlung staubiger Hüte. Ihre Mutter warf nie etwas weg. In allem steckte noch ein wenig Leben.
    Sich begnügen
war das Lebensmotto für Charlotte und ihre Mutter. Ihre Wohnung war klein und ohne jeden Charme. Aber sie lag bequem an einer Buslinie, und die Miete war gering. Also begnügte man sich damit.
    Wenn die Wohnung auch nicht schön war, so war sie doch zumindest sauber. Das alte Linoleum glänzte, und der schlichte braune Teppichboden war makellos. Auch Charlottes alte Röcke waren tadellos, und an ihren Blusen fehlte nie ein Knopf. Das blassgrüne Resopal in der Küche war hässlich, aber strahlend wie Charlottes polierte Schuhe. Und jeder, der den schmalen Flur an der Harlem Avenue betrat, hob den Kopf und schnupperte mit geschlossenen Augen nach den delikaten Düften, die aus Apartment 2B kamen.
    „Ich habe ein gutes Gefühl bei dieser Party. Du lernst vielleicht jemand kennen“, sagte Helena zufrieden lächelnd. „Ich habe dafür gebetet.“
    Charlotte verdrehte die Augen und wandte ihr den Rücken zu, um in ein altes rotes Wollkleid zu steigen.
    „Eine Frau braucht eine Mann, der auf sie aufpasst“, setzte ihre Mutter eifrig ihren Monolog fort. „Und sie muss für ihn und sein Heim sorgen. Und für seine Kinder. Die Ehe ist ein heiliger Stand, ein Sakrament. Ja, dafür bete ich.“ Ihre Stimme bebte vor Rührung. „Ich möchte nicht, dass du allein und unglücklich bist.“
    Charlotte verharrte und hielt den Kleiderbügel fester. Im Spiegel sah sie sich, wie ihre Mutter sie nicht sehen wollte: eine dünne Zwanzigjährige, eine Hinterzimmerbuchhalterin, dazu verdammt, bis an ihr Lebensende mit ihrer Mutter in einer schäbigen Wohnung zu leben.
    „Mom.“ Charlotte legte ihrer Mutter einen Arm um die Schultern. Sie wollte Trost spenden, obwohl sie ihn eigentlich selbst brauchte. „Mach dir um mich keine Gedanken. Ich kann für mich sorgen – und für dich.
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