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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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verzweifelt sucht, und dafür sorgen, dass Ousep Chacko seine sinnlose Suche abbricht, deren traurige kleine Einzelheiten sie jede Nacht hört, wenn er unten am Tor wie ein Tier brüllt? Kann Mythili auf irgendeine Art all dem für immer ein Ende setzen und die Chackos weiterleben lassen?
    Als Thoma zur Nachhilfestunde kommt, verlässt sie den Balkon. Er hat ein umgeändertes Hemd seines Bruder an, dasselbe Hemd, das Unni einen Tag vor seinem Tod trug. Sie ist überrascht, dass sie das noch weiß. Wie immer sitzen sie in ihrem Zimmer; die Tür, die sich nicht mehr verriegeln lässt, ist geschlossen.
    «Wenn acht Männer eine Mauer in zehn Tagen bauen können, wie lange brauchen dann zwei Männer für eine Mauer, die dreimal so hoch ist?»
    Thoma macht ein paar Berechnungen in seinem Heft und braucht eine Weile dafür. «Thoma», sagt sie. Er blickt auf. «Du siehst in letzter Zeit anders aus, Thoma, du siehst traurig aus.»
    «Mir geht’s gut», erwidert er, «ich bin stark. Das sieht genauso aus, wie wenn man traurig ist, aber ich bin nur stärker als früher.»
    «Woher kommt es, dass du jetzt stark bist?»
    «Mir ist was passiert.»
    «Was denn?»
    «Ich hab dir doch von Unnis Trick erzählt. Danach ist mir klar geworden, dass ich bloß ein Schwachkopf bin, wie die meisten. Und ich will kein engherziger Schwachkopf mehr sein.»
    «Schon gut. Du hast mir nur die Wahrheit gesagt.»
    «Die Wahrheit ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass ich dir den Trick verraten habe, weil ich gedacht habe, ich sei nicht gut genug. Ich will nicht mehr dauernd Angst haben. Ich will starksein, damit ich mich um meine Mutter kümmern kann und um alle, die meine Hilfe brauchen. Ich will wie Unni sein. Ich will stark sein.»
    Er kritzelt etwas in sein Heft, aber sie sieht, dass es nichts mit der Rechenaufgabe zu tun hat. Ohne aufzublicken, sagt er: «Und ich will rausfinden, warum er es getan hat.»
    «Was hat denn dein Vater herausgefunden?»
    «Ich weiß nicht genau. Ich weiß nur, was mein Vater sagt, wenn er betrunken ist. Vor ein paar Monaten hat er, glaube ich, einen Comic von Unni gefunden. An dem Tag, als mein Bruder starb, hatte er ihn an jemanden geschickt, aber irgendwie ist er nach drei Jahren zurückgekommen.»
    «Ja und?»
    «Mein Vater glaubt, dass ein Comic, den Unni an dem Tag abgeschickt hat, als er starb, vielleicht Hinweise enthält.»
    «Wovon handelt der Comic?»
    «Es ist eine wahre Geschichte.»
    «Wie geht die Geschichte?»
    «Weißt du, wer Philipose ist?»
    «Der Name ist mir vertraut. Ich weiß auch nicht, warum.»
    «Hast du den Namen schon mal gehört?»
    «Ja.»
    «Wo hast du den Namen gehört?»
    «In dem Namen ist die Stimme von deiner Mutter. Ja, jetzt fällt’s mir ein. Ich hab gehört, wie deine Mutter den Namen manchmal genannt hat. Du weißt schon, wenn sie in einem von ihren Zuständen ist. Ich hab immer gedacht, er ist ein Verwandter.»
    «Er ist kein Verwandter.»
    «Wer ist dieser Philipose?»
    «Vor vielen Jahren, als meine Mutter ganz jung war, ist ihr etwas zugestoßen. Eines Abends hat sie sich nach der Schule alleinauf den Heimweg gemacht und ist von Philipose überfallen worden. Meine Mutter konnte ihm entkommen, weil sie geschrien hat und Leute zu ihr gerannt kamen. Aber sie war zutiefst erschüttert und führt seit diesem Tag Selbstgespräche. Sie hat es nie jemandem gesagt. Doch eines Tages erzählte sie Unni die ganze Geschichte. Unni war so wütend, dass er in den Zug stieg, weil er Philipose treffen und dann verprügeln wollte. Aber Philipose war schon tot. Er ist, glaube ich, an Altersschwäche gestorben.»
    «Und dann?»
    «Das ist alles. So endet die Geschichte. Mir gefällt sie gar nicht.»
    Sie blättert das Mathebuch durch und versucht wieder, einen Entschluss zu fassen. Ringsum herrscht die trostlose Stille einbrechender Dunkelheit. Die Kinder haben aufgehört zu spielen, die Vögel sind fort, es ist, als gäbe es auf der Welt nur noch sie beide in dem kleinen Zimmer. «Hundertzwanzig Tage», sagt Thoma. Sie blickt ihn an und sieht eine Flut von Ereignissen, die sich nun nicht mehr aufhalten lässt.
    «Mythili», sagt Thoma, «zwei Männer brauchen einhundertzwanzig Tage für die Mauer. Das ist ganz schön lange.»
    «Nicht Unni, sondern Philipose hätte sich umbringen sollen», sagt sie.
    «Philipose hat ein normales, friedliches Leben geführt, sagt meine Mutter», erklärt Thoma. «Ich weiß nicht, ob sie das ärgert.»
    «Thoma, wo warst du eigentlich, als Unni
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