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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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starb?»
    «Ich war in meinem Zimmer und habe geschlafen. An Feiertagen schlafe ich immer lange, weil ich nachts nicht gut schlafe.»
    «Ist Unni in dein Zimmer gekommen?»
    «Ich glaub schon, aber ich weiß es nicht genau. Ich glaube, er hat mich auf die Stirn geküsst, aber ich bin mir nicht sicher.»
    «Du bist dir nicht sicher?»
    «Nein. Weil er mich immer auf die Stirn geküsst hat, wenn er mich schlafen sah, also hat er es vielleicht auch diesmal getan. Das Einzige, was ich noch weiß, ist, dass ich was geträumt habe.»
    «Was hast du geträumt?»
    «Ich hab geträumt, dass eine Frau vor einer riesigen Meereswelle davonrennt.»
    «Wer war die Frau?»
    «Sie hatte kein Gesicht. Ergibt das irgendwie Sinn?»
    «Ja, das ist nichts Ungewöhnliches.»
    «Aber sie hat beim Wegrennen geschrien.»
    «Du hast sie schreien hören?»
    «Ja.»
    «Hast du die Stimme schon mal gehört?»
    «Ich weiß nicht. Ein Schrei ist ein Schrei.»
    ~
    Die Stille in Somens Zimmer ist tief und bestimmt und unerklärlich bedeutungsschwanger. Wie wenn man heiratet. Als Somen Pillai endlich vom Boden aufblickt, lächelt er und lässt den rechten Zeigefinger kreisen, als wolle er die Luft umrühren.
    «Eines dürfte Ihnen klar geworden sein», sagt der Junge, «als Sie die vielen Informationen aufgezählt haben, die Sie so gewissenhaft zusammengetragen haben, dürfte Ihnen klar geworden sein, was an Ihrer Geschichte problematisch ist. Ihnen fehlt die zeitliche Abfolge. Wenn Sie die verstehen, verstehen Sie eine ganze Menge.»
    «Das stimmt, Somen.»
    «Lassen Sie mich am Anfang beginnen. Wäre das nicht hübsch?»
    «Ganz zweifellos.»
    «Am Anfang, Ousep, war das Nichts. Es gab keine Sterne, keinen Weltraum, keine Materie, keine Zeit.»
    Ousep stützt das Kinn in die Hand und versucht, eine unbewegte Miene aufzusetzen. Der Junge lacht los. «Keine Sorge, ich spiele nur mit Ihnen.»
    «Ich muss zugeben, dass ich entmutigt war.»
    Somen lehnt sich zurück, legt die Arme hinter seinen großen Kopf und mustert seinen Besucher mit entspannter Überlegenheit, die sich kaum von der Arroganz der Ärzte unterscheidet, die sie ihren Patienten entgegenbringen. Es wäre ergiebig, sein überzogenes Selbstvertrauen zurechtzustutzen und ihn zusammenklappen zu sehen. Das führt immer zu etwas, doch im Augenblick wirkt der Junge mit seiner langsamen, gelehrten Art trotzdem eindrucksvoll.
    «Was ich über Unni weiß, ist das, was er mir gesagt hat und was ich beobachtet habe, wenn ich im Klassenzimmer in meiner Ecke saß und später zu Hause, wo er mich oft besucht hat. Wie Sie Ihren Quellen so gekonnt entnommen haben, habe ich ihn erst richtig kennengelernt, als wir beide siebzehn waren, wenige Monate vor seinem Tod. Vieles hat er mir nicht erzählt. Aber was ich weiß, will ich Ihnen sagen.»
    Die Kindheitsgeschichte des eigenen Sohnes aus dem Mund eines Fremden zu hören, ist für einen Vater beunruhigend, selbst für einen Vater wie Ousep Chacko. Er lässt gelten, dass er nichts von Unnis Leben als Teenager weiß. Doch Unni als Kind ist etwas ganz anderes.
    Ousep hat seinen Sohn nie umarmt, ihn nie auf den Schultern getragen, er ist nie mit ihm in den Zirkus gegangen oder hat irgendetwas von all dem getan, was Väter heutzutage mit ihren Kindern machen. Wie andere Väter, die aus einer ländlichen Idylle stammen, dem goldenen Zeitalter der Männer, hatte er sich vorgestellt, all das seiner Frau übertragen zu haben. Dochjetzt, da Somen von Unnis Kindheit spricht, spürt er, dass er heftige Besitzansprüche auf seinen kleinen Sohn erhebt. Er ist gekränkt, dass ein seltsamer junger Mann, der sich selbst in sein Zimmer verbannt hat, ihm Dinge über Unni erzählt, die er nicht wusste. Er sehnt sich verzweifelt danach, sein Kind zu berühren, seine kleinen Finger zu halten und mit ihm spazieren zu gehen, es auf den Tisch zu setzen und die seltsame Welt, die es behauptet, im Geiste gesehen zu haben, aus ihm hervorzuzaubern.
    «Unni war die meiste Zeit normal», sagt Somen. «Normal bedeutet, dass die Welt, die er sah, identisch mit dem war, was andere mit ihren Sinnen wahrnehmen. Beleidigt es Sie, dass ich Ihnen schildere, was ‹normal› bedeutet?»
    «Nein, ich bin nicht beleidigt.»
    «Normal ist, was für die Mehrheit gilt.»
    «Das ist eine einleuchtende Definition.»
    «Unni war die meiste Zeit normal. Doch von Geburt an stimmte etwas mit ihm nicht. Seine früheste Erinnerung daran reicht in die Zeit zurück, als er ungefähr fünf war. Wahrscheinlich
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