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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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Johns-Hopkins-Universität. Danach besuche ich meinen Sohn und seine Familie für eine Weile. Dann meine Tochter und ihre Familie. Ich bin nämlich ein arbeitsloser alter Mann.»
    «Sie wollten also nicht länger warten. Haben Sie das gemeint?»
    «Ich weiß nicht.»
    «Sie wissen nicht, ob Sie länger hätten warten können?»
    «Was ich meine, ist, dass ich mit Ihnen im Wagen reden will, auf dem Weg zum Flughafen. Ja, das habe ich gemeint. Weil ich auf diese Weise sagen kann, was mir vorschwebt, und Sie dann los bin. Sie haben vielleicht jede Menge Fragen, aber ich kann sie nicht beantworten. Ich will sagen, was ich zu sagen habe, und möchte Sie dann irgendwo absetzen und wegfahren.»
    «Und was wollen Sie mir sagen?»
    Iyengar fährt sich mit den Fingern durch sein silbernes Haar und sieht aus, als würde er nachdenken, obwohl er dafür bestimmt genug Zeit hatte.
    «Unni hat mir irgendwann etwas erzählt», sagt Iyengar. «Und zwar, dass es in allen berühmten Geschichten auf der Welt immer Gegensätze gibt – es gibt den Superhelden und den Superbösewicht, Gut und Böse, die Starken und die Schwachen. Dann hat er mich gefragt, ob es das Gegenteil des Leichen-Syndroms gibt. Ob es Menschen gibt, die sich völlig lebendig fühlen, diejeden Augenblick spüren, dass das Leben in ihnen die größte Macht im Universum ist. Menschen, die hoffnungslos glücklich sind. Ich sagte zu ihm, dass die Neuropsychiatrie sich seltsamerweise nicht mit Menschen befasst, die sich in so einem Zustand befinden – sie kümmert sich nur um Leiden, die Heilung brauchen. Die Anti-Leiche muss nicht behandelt werden. Die Anti-Leiche ist das Ziel der Menschheit. Daraufhin sagte Unni: ‹Ich bin die Anti-Leiche.›»
    «Doktor, warum sollte jemand, der so glücklich ist, beschließen zu sterben?»
    «Möglicherweise», sagt Iyengar langsam und mit unauslotbarer Vorsicht, «möglicherweise war Unni Chacko nicht derjenige, der er zu sein glaubte.»
    Ousep spürt ein gewaltiges Gewicht auf der Brust, so, als umarmte ihn ein halberwachsener Junge heftig. «Glauben Sie das, Doktor?»
    «Oder aber Unni war das, wofür er sich hielt, und wir verstehen das Glück der anderen nicht. Vielleicht hat das Glück nichts mit dem Leben zu tun, vielleicht überschätzen wir den Reiz des Lebens.»
    «Was versuchen Sie, mir zu sagen, Doktor?»
    «Nur, was ich Ihnen eben gesagt habe. Mehr wollte ich gar nicht sagen.»
    «Aber was halten Sie davon?»
    «Sehen Sie, das ist das Problem, Ousep. Meine Meinung ist ganz unwichtig. Außerdem wäre sie unfair, weil ich Unni nicht offiziell untersucht habe.»
    «Dann seien Sie unfair. Sagen Sie mir Ihre Meinung.»
    Iyengar betrachtet erst seine faltigen Finger, dann seine müden Handflächen und sagt: «In meinem Beruf habe ich mich oft gefragt, ob manche meiner Patienten nur zu mir kommen, weil sie etwas sehen, was das normale Gehirn nicht sehen kann. Wasich mit sehr unklaren Worten sagen will, ist Folgendes: Was ist, wenn Unni jemand war, der mehr sah als andere? Was ist, wenn er die Welt auf eine Art sah, die er nicht erklären konnte?»
    «Und wenn es nicht so ist, Doktor? Wenn er einfach Wahnvorstellungen hatte?»
    «Das hat Unni ja herauszufinden versucht, Ousep. Ist Ihnen das nicht klar?»
    «Warum musste er dann sterben?»
    «Das weiß ich nicht, Ousep. Die Frage kann ich nicht beantworten.»
    Sie stecken im Vormittagsstau auf der Arcot Road, und der Wagen hat sich schon ein paar Minuten nicht mehr weiterbewegt. Straßenkinder, denen verschiedene Körperteile fehlen, schlagen an die Wagenscheiben. Sie sind nicht so unglücklich, wie alle glauben – einem Jungen zufolge, der einst behauptete, er sei unerträglich glücklich, und dann von einer Dachterrasse sprang.
    «Sie haben mir also alles gesagt, Doktor?»
    «Ja», sagt Iyengar. «Bevor Sie aussteigen, Ousep, wüsste ich noch gerne, ob Sie die Leiche gefunden haben.»
    «Nein.»
    «Dieser Junge, Somen Pillai – haben Sie den nicht getroffen?»
    «Nein. Ich weiß nicht, wo er ist. Immer wenn ich zu seinem Haus gehe, erzählen mir seine Eltern, er sei nicht da. Ich war zu den seltsamsten Uhrzeiten dort, konnte ihn aber nie treffen oder auch nur sehen. Doch eines der Dienstmädchen in der Straße sagte etwas Merkwürdiges. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.»
    «Was hat sie gesagt?»
    «Sie sagte, sie habe von jemandem gehört, der es von jemand anderem gehört hat und so weiter, dass Somen sich seit über zwei Jahren in seinem Zimmer einschließt. Ich
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