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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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kann mir keinen Reim darauf machen.»
    «Das ist doch völlig begreiflich, Ousep. Eine Leiche tut höchstwahrscheinlich genau das.»
    «Wollen Sie damit sagen, dass der Junge die ganze Zeit im Haus gewesen ist?»
    «Sogar noch viel länger.»
    «Und seine Eltern haben die Tür abgeschlossen und ihn im Haus gelassen?»
    «Schon möglich.»
    «Sind Sie sicher, Doktor?»
    «Holen Sie sich Ihre Leiche, Ousep. Tun Sie, was sein muss. Ich interessiere mich nicht mehr für meine, aber gehen Sie, Ousep, finden Sie Ihre Leiche.»
    Es ist Mittag, und alle, die in dem schmalen, ungepflasterten Sträßchen wohnen, saugen den Anblick in sich auf – der stadtbekannte Alkoholiker ist mit einem zwergenhaften Schlüsselmacher unterwegs, der drei große Metallringe in der Hand hat, an denen Hunderte von Schlüsseln hängen. Vielleicht, weil sie eine Tür öffnen wollen.
    Wie Ousep erwartet hatte, ist die Tür abgeschlossen. Somens Eltern sind zur Arbeit gegangen. In der kleinen Hand des winzigen Schlüsselmachers, eines zarten und würdevollen Mannes, sieht das Schloss besonders groß aus. Er schnaubt verächtlich und sagt, die Sache sei ein Kinderspiel. Er blickt auf und lacht über den Witz, den er gleich macht. «Was ist, wenn das nicht Ihr Haus ist?» Er steckt schnell ein paar Schlüssel ins Schloss.
    Ein gebrechlicher alter Mann in blendend weißem Hemd taucht am Tor auf. Er hat die Hände hinter dem Rücken gefaltet und sieht zu. Innerhalb weniger Minuten stehen vier weitere alte Männer und zwei alte Frauen vor dem Tor. Sie stehen still und asymmetrisch da, als führten sie einen abstrakten Tanz auf, und blicken Ousep lieblos an. Der Schlüsselmacher kniet auf der Fußmatte, kratzt die Zacken mehrerer Schlüssel mit einem Eisenstabab und steckt sie dann ins Schloss. Gelegentlich dreht er sich zu der kleinen Ansammlung neugieriger Rentner um. Das Grüppchen wird langsam größer, und auch die Hausfrauen haben sich jetzt dazugesellt. Der Liliputaner wird immer verwirrter und blickt sich immer länger und häufiger um. Er sieht Ousep leicht misstrauisch an, beschließt aber, die Situation nicht zu verstehen.
    Ousep sieht die rasende graue Vespa schon von Weitem, die mit Somens Eltern die Straße entlanggebraust kommt. Als sie näher kommt, erkennt Ousep, dass der Mann fuchsteufelswild ist. Er hält am Straßenrand, lässt die Lenkstange los und stürmt zu seinem Haus. Die Vespa kippt mit Mrs Pillai um. Die Menschenmenge geht zu ihr, doch Somens Vater ist ungerührt. Er fängt an, den Schlüsselmacher zu treten, der völlig außer sich ist und versucht, die Tritte mit sorgsam gesetzten Handbewegungen abzuwehren. Er deutet auf Ousep und schreit: «Ich dachte, das Haus gehört diesem Mann.» Er bringt es fertig, mit seinen drei Metallringen davonzuspurten, und flitzt mit gleichbleibender Geschwindigkeit und ohne sich umzudrehen, über die Straße. Am Ende der Straße wird er sogar noch schneller.
    Pillai stößt mit dem Finger nach Ousep. «Bleiben Sie mir vom Leib, Ousep! Das muss sofort aufhören. Sie verlieren ja den Verstand.»
    «Somen Pillai ist im Haus», sagt Ousep.
    «Das stimmt nicht.»
    «Dann lassen Sie mich doch einfach reinkommen, damit ich Ihnen glauben kann.»
    «Das ist mein Haus, Ousep, und ich entscheide, wer über diese Schwelle tritt.»
    «Bringen Sie mich zu Somen.»
    Somens Mutter geht weinend ins Haus. Ihr Mann geht hinterher, und dann knallen sie die Tür zu. Ousep blickt die kleine,wütende Menschenmenge an und sagt: «Denken Sie mal nach – wann haben Sie den Jungen zuletzt gesehen? Wo ist dieser Junge? Was ist mit ihm passiert?»
    Von nun an kommt Ousep jede Nacht sturzbetrunken hierher. Er klingelt mehrmals, weiß aber, dass niemand aufmacht. Er steht vor dem Tor und schreit den Namen des Jungen. Er geht die Straße auf und ab und brüllt: «Somen Pillai, rede mit mir, rede mit dem Vater von Unni Chacko.» Morgens steht er nüchtern und elegant am Tor. Er steht dort, wenn das Dienstmädchen kommt, und er steht dort, wenn sie wieder geht. Er steht Zigaretten rauchend da, wenn Somens Eltern in Bürokleidung erscheinen und die Haustür mit zwei Vorhängeschlössern sichern. Er steht da und sieht zu, wie sie mürrisch auf ihrer alten grauen Vespa davonfahren. Das macht er jede Nacht und jeden Tag. Er wird nicht lockerlassen, es ist sein letztes Gefecht.
    Thomas Mutter sagt: «Dein Vater ist verrückt geworden.» Ousep geht nicht mehr zur Arbeit. In letzter Zeit wacht er im Morgengrauen auf und geht
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