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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau
Autoren: Annette Hohberg
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offensichtlich aufdrängt. Als würde ein letztes Band sie mit der Hoffnung verbinden, aus einem bösen Traum zu erwachen. Ein haarfeines Band, aber ein reißfestes – und genau dieses Band würde sie selbst durchschneiden müssen. Sie ist unendlich froh, nicht allein zu sein, und gleichzeitig ist sie aus genau diesem Grund unendlich traurig.
     
    Als die ersten Lichter Riminis auftauchen, zeigt die Uhr im Auto kurz vor sieben. Es ist noch still in der Stadt am Meer. Ein feiner Dunst zieht durch die Straßen. Dieser für die Gegend so typische Dunst.
Misty
hat Robert ihn immer genannt. Die Lightversion von Nebel. Nicht ausreichend, um die Orientierung zu verlieren.
    Doch selbst bei dichtem Nebel bräuchten sie kein Navi. Keine Stimme, die ihnen sagt, wann sie rechts oder links abbiegen müssen, die ihnen beim nächsten Kreisverkehr die Entscheidung abnimmt und Meter und Minuten bis zum Ziel ausrechnet. Ihr Ziel ist der Strand. Den Weg dorthin kennen sie. Sie wissen auch, dass jedes Navi angesichts des Meeres kapituliert und zur sofortigen Umkehr auffordert. Doch das ist für Martha keine Option mehr.
    Ein junger Mann mit Kopfhörern in den Ohren und Hund an der Leine läuft über eine große Kreuzung. Michele bremst, und Martha sieht Hund und Herrchen noch ein paar Sekunden hinterher. Sie werden gleich in einem der Hauseingänge verschwinden. Wahrscheinlich freuen sie sich auf das Frühstück und auf den Tag, der vor ihnen liegt. Der Mann wird Kaffee kochen und Brot toasten und Butter mit Marmelade oder Honig daraufgeben. Er wird damit nicht allein sein in Italien. Überall in Rimini, in Florenz, in Rom werden die Menschen ihre Kaffeemaschinen einschalten. Auch in Frankreich werden sie das tun, in Spanien, in Deutschland. Alle werden tun, was sie immer tun an einem Sonntagmorgen, und sie werden sich nichts dabei denken. Außer dass sie morgen neue Milch besorgen oder mal wieder ihre Mutter anrufen oder endlich die Steuererklärung machen sollten.
    Sie wenden sich irgendwann nach links und fahren hinaus aus der noch schläfrigen Stadt. Ihre Erinnerungen an den Kinobesuch vor ein paar Wochen nehmen sie mit. Damals in der kleinen Bar hatte Martha Michele gebeten, sich an diesen Augenblick des Glücks zu erinnern, wenn es ihm mal irgendwann nicht so gutgehen würde. Damals hatte sich ihr Wissen mit seiner Ahnungslosigkeit verbunden.
    »Halte an unserem Parkplatz an«, bittet sie ihn.
    Er setzt den Blinker.
    Der alte VW -Bus mit dem aufgemalten Peace-Zeichen steht noch immer dort. Am Himmel über dem Meer stehen ein paar Sterne, die bald verblassen würden. Auch der Mond steht da, der heute eine Delle zeigt, weil er bereits die Rückreise zum Neumond angetreten hat. Auch er würde tun, was er immer tut – bis zur Sichel abnehmen, um danach wieder zuzulegen.
    Michele stellt den Motor aus.
    »Lass uns im Auto sitzen bleiben«, sagt Martha. Sie rutscht zu ihm hinüber und legt ihren Kopf auf seine Brust.
    »Bist du müde?«, fragt er.
    »Und du?«, fragt sie zurück.
    »Nein«, erwidert er, »aber ich hatte Angst, dass es dir zu viel wird. Die Leute, das Essen, der Wein, der Joint, die Musik …«
    Sie legt ihm den Zeigefinger auf den Mund. »Das war genau das, was ich wollte, Michele. Ich wollte mich am Leben und am Wein satt trinken, wollte Leute um mich haben, die ich liebe, und dich ganz nah bei mir.«
    Sie setzt sich kurz auf, um das Seitenfenster herunterzukurbeln. Dann legt sie ihren Kopf wieder ab. Kühle kriecht in den Wagen. Kühle, die bereits nach Morgen riecht. Sie bringt das Rauschen des Meeres mit. Man hört die Wellen an Land kommen, eine nach der anderen, unermüdlich rollen sie aus der Nachtschicht der Tagschicht entgegen. Ein fließender Übergang.
    »Ist dir nicht kalt?« Michele legt die Decke, die heruntergerutscht ist, um Marthas Schultern.
    »Nicht mehr«, erwidert sie. Seine Fürsorglichkeit rührt sie.
    Eine Zeitlang sitzen sie da, ohne etwas zu sagen. Sie sehen aufs Wasser und auf den Himmel darüber, der langsam heller wird. Ein paar Möwen drehen ihre Kreise. Ihr Kreischen setzt sich in Marthas Gedanken, als wollte es sie mit Nachdruck in den Augenblick holen. Immer wieder spielen diese Gedanken mit einer Zukunft, die sie nicht mehr hat. Täuschen sie wie eine Fata Morgana mit Bildern, die so tun, als gäbe es ein Morgen. Sie sieht sich mit Michele an anderen Stränden dieser Welt sitzen und auf andere Meere schauen. Sie sieht sich mit ihm in den Garküchen Bangkoks Suppe essen und in
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