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Das Tier

Das Tier

Titel: Das Tier
Autoren: Sandra Gernt , Sandra Busch
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Weile still stehen und lauschte. Ein lautes Schnarchen drang aus dem Nebenraum. Auf leisen Sohlen näherte sich Cyrian der angelehnten Tür und spähte hindurch. In einer winzigen Kammer lag ein alter Seebär und schlief. Alkoholdunst waberte in der Kammer und er entdeckte auf dem Nachttisch eine leere Flasche. Vorsichtig schob sich Cyrian in den Schlafraum und auf den Kleiderschrank zu. Langsam öffnete er dort die Tür, wobei er zu Brudfor betete, dass sie nicht quietschte, und zog mehrere Kleidungsstücke heraus. Hosen, Pullover, eine Jacke, einen Mantel … Mit den Klamotten huschte er wie ein Mäuschen in den Wohnraum zurück. Dort entdeckte er eine Tasche aus Segeltuch, in die er die Kleidung stopfte. Auch Angelschnur, ein Fischermesser, ein halber Laib Brot und mehrere Konserven wanderten mit hinein. Als er auf einen Dosenöffner stieß, nahm er den ebenfalls mit. Winteräpfel, runzlig und stark riechend, lagen in einem Korb in der Zimmerecke. Ungeniert schüttete Cyrian sie zu den anderen Dingen und stopfte mehrere Würste, die an einem Haken hingen, und einen dicken Schinken hinterher. Zwischendurch hielt er immer wieder inne und lauschte. Das Schnarchen drang unverändert aus der Kammer. Der Seebär schlief und merkte nicht, dass er soeben ausgeplündert wurde. Cyrian suchte nach Geld, fand aber keines. Sicherlich hatte der Seebär seinen Sparstrumpf unter der Matratze versteckt, wie es nahezu jeder tat. Dort danach zu forschen erschien ihm zu riskant, daher nahm er bloß ein Paar Stiefel an sich, die sandig an der Tür standen, und warf sein Diebesgut dann aus dem Fenster. Flink war er auch hindurch, packte die Tasche und die Stiefel und rannte zu der Höhle in den Felsen zurück. Ein Blick in den Himmel zeigte ihm, dass der Morgen anbrach und er wollte nicht, dass jemand ihn von einem früh ausfahrenden Fischerboot aus beobachtete oder der Seebär noch erwachte. Oder das Tier spurlos verschwand ... Thars hatte doch auf ihn gewartet. Oder? Er hatte es versprochen! Cyrian rannte schneller und ging erst gezwungenermaßen langsamer, als der Schmerz in seiner Nase zu einem dröhnenden Pochen in seinem ganzen Kopf wurde.

    Thars schlief, als Cyrian sich zu ihm kniete, schreckte aber sofort hoch. Ein Lächeln glitt über sein müdes Gesicht. Cyrian wurde schwindelig, als ihm die Bedeutung klar wurde – das Tier freute sich tatsächlich, ihn zu sehen. Noch nie hatte sich jemand bei seinem Anblick gefreut, nahm man gierige Freier aus. Von denen würde ihn im Moment keiner beachten, nicht mit einem solch verbeulten Gesicht. Zumindest nicht in der Rotenbachstraße, in den mieseren Gassen durchaus schon. Thars schien es gleichgültig zu sein.
    „Du hast gestohlen“, flüsterte er. Das Lächeln veränderte sich nicht, auch das schien keine Bedeutung für diesen seltsamen Mann zu haben. Und das, obwohl er beharrlich darauf bestand, ihn als unschuldigen Engel zu bezeichnen.
    „Woher weißt du das?“, fragte Cyrian bedächtig.
    „Ich rieche Schnaps und Pfeifenkraut und alten Fisch, Gerüche, die an deiner Beute kleben. Du hast Essen und Kleidung gestohlen. Dazu rieche ich deine Sorge, dass der Besitzer deinen Spuren folgen könnte. Und ganz tief in dir verborgen wittere ich dein schlechtes Gewissen. Du hast keinen reichen Mann bestohlen.“
    Im ersten Impuls wollte Cyrian abstreiten, so etwas wie ein schlechtes Gewissen überhaupt zu kennen. Er war Straßenrotz, verdammt noch mal! Seine Mutter hatte ihn zum Stehlen geschickt, da hatte er noch in die Windeln geschissen!
    Aber dann sickerten Thars‘ Worte durch.
    Wittern ?
    Das war ja wohl ein dummer Scherz … Brudfors Gnade, kein Mensch konnte ein Gewissen riechen. Das hatte gar keinen Geruch, da war Cyrian sich sehr sicher.
    Oder etwa doch?
    Ein schmerzerfülltes Keuchen beendete sein Sinnieren. Sein Retter war schwer verletzt und je heller es wurde, desto besser konnte Cyrian die Schusswunde erkennen. Sie sah übel aus. Die Kugel steckte tief im Fleisch, vermutlich sogar im Knochen selbst. Das Ding musste raus, sonst würde das Tier tatsächlich sterben. Seltsam, vor wenigen Stunden erst hatte Cyrian panische Angst vor diesem Geschöpf gehabt. Jetzt erfüllte ihn der Gedanke mit Panik, Thars zu verlieren.
    Er hat mich gerettet.
    Und er nennt mich einen Engel. Und er hat mir gedankt, statt mich zu schlagen, dass ich nicht genug Essen gebracht habe. Er hat sogar die Kratzer bemerkt. Und … und er glaubt, ich sei zu mehr tauglich als bloß den Arsch
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