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Das Tier

Das Tier

Titel: Das Tier
Autoren: Sandra Gernt , Sandra Busch
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umklammert. Jetzt begriff er wenigstens, warum die Welt so grausam schaukelte und ruckte. Ihm war schlecht. Alles schmerzte, Schlamm spritzte in sein zerschlagenes Gesicht. Dazu war es stockdunkel. Wo war er? Cyrian schaffte es, den Kopf ein wenig zu heben. Vor ihm, in weiter Ferne, erblickte er einen Lichtfleck. Oder Moment … Dieser Lichtfleck kam in beängstigender Geschwindigkeit näher. Und näher. Und – war vorbei. Wer immer ihn trug, er rannte schneller als ein Pferd. Schneller als eine achtspännige Kutsche.
    Das Tier!, dachte er. Cyrian erinnerte sich. Er hatte für das Tier gesungen. Dann waren die Wärter erschienen. Anscheinend hatte das Tier sich befreien können und beschlossen, ihn mitzunehmen. Als gemütliches Nachtmahl vielleicht?
    Entkräftet ließ er sich wieder hängen. Gleichgültig, was als nächstes geschah, er würde es nicht verhindern können.

    Stunden schienen vergangen zu sein, als das Geschaukel plötzlich nachließ. Cyrian wurde sanft zu Boden gebettet. Es roch nach Seetang und Meereswasser. Mit etwas Überwindung wagte er es, die Augen zu öffnen. Sie befanden sich in einer Höhle, erkannte er, oder wohl eher eine Vertiefung in einem Felsen. Der Mond schien hell auf das Meer, das nahebei seine Wellen an den Strand spülte. Das Geräusch hatte etwas zutiefst Beruhigendes. Cyrian war erst einmal in seinem Leben am Meer gewesen. Seine Mutter – Brudfor habe sie selig – hatte ihn damals aus einer Laune heraus all die vielen Meilen hergeschickt, um Krabben zu fangen. Die halbe Nacht war er am Strand geblieben, hatte der Brandung gelauscht, sich lauwarmes Wasser über die Füße plätschern lassen, bis er schließlich mit einem Eimer voller Krabben heimgekehrt war. Bevor er allerdings seine reiche Beute vorzeigen konnte, hatte die Stadtgarde ihm aufgelauert, ihm den Eimer entrissen, ihn geschlagen und so nach Hause geschickt, wo er direkt noch einmal Prügel einstecken musste. Doch die Stunden am Meer hatte er niemals vergessen … Cyrian lächelte versonnen. Das musste die schönste Nacht seines Lebens gewesen sein.
    „Du hast eine solch reine Seele, du müsstest eigentlich im Dunkeln leuchten“, flüsterte es plötzlich neben ihm.
    Cyrian schreckte zurück, was sein zerschlagenes Gesicht ihm heftig verübelte.
    Das Tier berührte ihn allerdings nicht, sondern warf sich lediglich die zerfetzte Kleidung vom Leib und humpelte ins Wasser. Die Neugier zwang Cyrian hoch. Was war es nun, dieses Tier: ein Mensch, eine Bestie, oder eine Mischung aus beidem?
    Was er im Mondlicht erblickte, wirkte zumindest äußerst menschlich. Groß und massig war das Tier gebaut, auf eine etwas hagere Weise muskulös – gewiss, man hatte es über ein halbes Jahr lang hungern lassen. Die Haut war hell, und auffällig behaart schien es ihm auch nicht zu sein. Zottelhaare und Bart, das war normal nach einer Kerkerhaft.
    Das Tier brachte Ewigkeiten damit zu, immer wieder unterzutauchen, die Haare durchzurubbeln und über jeden Flecken Haut zu reiben. Es war ein anrührender Anblick, dieser Eifer, sich den Kerker abzuwaschen. Cyrian beobachtete diese Szene wie gebannt, bis das Tier – der Mann – zu ihm zurückkehrte. Entsetzt sah er, wie stark der Mann humpelte, wie mühsam und langsam er sich bewegte. Und was dort über sein rechtes Bein rann, war das Blut?
    „Du bist verletzt!“, flüsterte er heiser.
    „Genau wie du.“
    Das Tier kauerte sich ächzend zu ihm nieder und streckte zögernd eine Hand nach ihm aus. Es hielt einen nassen Stofffetzen, mit dem es auf Cyrians Gesicht zusteuerte.
    „Darf ich?“
    Verblüfft über diese scheue Frage brummte Cyrian etwas Bejahendes. Mit äußerster Vorsicht wischte der Mann ihm das verkrustete Blut ab. Es schmerzte grausig, als Salzwasser über seine Wunden leckte, aber Cyrian wusste, er würde es überleben. Eine gebrochene Nase, eine aufgeplatzte Lippe, das würde rasch heilen. Anschaffen konnte er allerdings für die nächsten Wochen vergessen.
    „Wie heißt du?“, fragte er mühsam, um sich von seinem Elend abzulenken.
    Der Mann hielt inne, offenbar verwirrt über diese Frage. Oder hatte er keinen Namen? Konnte er sich nicht daran erinnern?
    „Thars“, erwiderte er schließlich nach langer Zeit. „Mein Name ist Thars.“

    Der Kleine hatte geschrien, als Thars ihm die Nase gerichtet hatte. Viel mehr konnte er für ihn nicht tun. Thars kroch in die hinterste Ecke der Höhle. In seinem Bein steckte eine Kugel. Die musste raus, oder er würde jämmerlich
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