Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Syndikat

Das Syndikat

Titel: Das Syndikat
Autoren: Fran Ray
Vom Netzwerk:
und wartete. Als er sie wieder ansah, wirkte er unsicher. »Denkst du noch an deine Mutter?«
    Diese Frage hatte sie am wenigsten erwartet. »Ja, klar«, sagte sie lapidar. Dass sie sich ihretwegen heute schon wieder mit Michael fast gestritten hatte, erwähnte sie nicht. Auch nicht, dass sie das Wort Wahrheit am liebsten aus ihrem Wortschatz streichen würde.
    Er zeigte auf das vergoldete Knäuel, ihre Trophäe. »Sie wäre stolz auf dich.«
    »Ich glaube, sie würde als Erstes die Zusammensetzung der Jury kritisieren.«
    »Auch wenn es dich nervt, Karen, sie war eine gute Journalistin.«
    »Ja, das war sie.« Sie wollte noch einen Schluck vom Scotch trinken, aber sie hatte vergessen, dass das Glas leer war. Wieder fielen ihr die unzähligen Telefonate ein, mit der australischen Polizei, der Küstenwache und verschiedenen Organisationen, die Menschen halfen, vermisste Angehörige wiederzufinden.
    Karen war erleichtert, dass der Kellner in diesem Moment an den Tisch kam. Sie bestellten einen französischen Cabernet Sauvignon und das Rinderfilet.
    »Ich hab’s immer noch nicht zur Vegetarierin geschafft«, sagte sie.
    »Tut mir leid«, sagte er nach einer Pause.
    »Was?«
    »Ich hätte mich melden sollen.«
    Ja, hättest du. Nach alldem, was wir gemeinsam erlebt haben, dachte sie und wartete.
    »Ich wusste einfach nicht, was ich dir hätte sagen können. Es wäre alles so banal gewesen.« Er lächelte unbeholfen.
    Der Kellner brachte den Wein. Karen betrachtete das Glas. Lava, wollte sie denken, aber sie dachte: Blut . Sie trank einen großen Schluck. »Du hast dich also gedrückt.« Er wollte etwas einwenden, doch sie redete weiter. »Ich hab mich sicher gefühlt, David, endlich, nach all den Tagen der Ungewissheit, ob sie mich nicht vielleicht doch erschießen oder köpfen oder sonst was Grausames mit mir anstellen. Und dann sagen sie, ich bin frei, man hat das Lösegeld gezahlt. Ich sehe noch den Jeep heranfahren. Zwei Soldaten steigen aus, helfen mir auf den Rücksitz. Und da sitzt Paolo, du weißt schon, der italienische Journalist. Er sieht völlig fertig aus. Auch ihn hatten sie als Geisel genommen. Aber das wusste ich nicht. Am Flughafen soll eine Maschine bereitstehen, um uns nach Brüssel zu fliegen. Und dann fragt der Beifahrer, ob wir’n Kaugummi wollen. Ich beuge mich vor, und im selben Augenblick schlägt was durch die Heckscheibe. Ich ducke mich, schreie, Kugeln prasseln, es ist aus, denke ich, jetzt haben sie uns doch gekriegt. Doch da startet der Jeep durch, die Soldaten sind total hektisch, reden was von friendly fire , dass das doch ihre Leute waren, und Paolos Kopf ist ...«
    »Karen ...«
    ... eine breiige Masse. Haut, Knochen, Blut, Gewebe ... seine Augen ... Die Bilder ließen sich nicht zurückdrängen. Sie griff zum Glas und merkte, dass ihre Hand zitterte. »Weißt du, was mir in dem Moment klar wurde?« Noch immer war sie entsetzt über diese Erkenntnis. »Wir sollten nicht lebend zurückkommen. Und ich hatte einfach nur ...« Sie wollte einen Schutzengel sagen, aber sie sagte: »Glück.«
    David runzelte die Stirn. »Aber ... Wieso, welchen Sinn hätte es gehabt? Sie haben ein Lösegeld gezahlt ...«
    »Das wird behauptet, ja, aber niemand hat mir gesagt, wie viel und wer es bezahlt hat. Die Redaktion? Irgendein Staat? Welcher? Wer hat das Lösegeld gezahlt?« Sie war wieder laut geworden, am Nebentisch sah man wieder zu ihnen herüber. Je länger sie über ihre Freilassung nachdachte, desto mehr Ungereimtheiten fielen ihr auf. Sie beugte sich über den Tisch und sagte etwas leiser: »In so vielen Nächten hab ich mich gefragt, was ich wohl gesehen habe – und nicht sehen durfte.«
    »Und was?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben das Feldlazarett besucht und wollten wieder zurück nach Kabul. Das war alles. Es gab nichts – nichts, was irgendwie merkwürdig gewesen wäre.«
    »Aber du meinst trotzdem, es gab einen Plan, dich auszuschalten?«, fragte er nachdenklich.
    »Genau.« Sie trank ihr Glas leer und sah ihm ernst in die Augen. »Ich nehme mich vielleicht zu wichtig, David, aber ich kann einfach nicht glauben, dass wir zufällig in dieses friendly fire geraten sind.« Genau das hatte sie auch Michael gesagt, aber er hatte gleich wieder davon angefangen, dass in unserer chaotischen Zeit die Menschen dazu tendierten, in allem einen »Sinn« zu suchen, nur um nicht einsehen zu müssen, dass ihr Leben nichts weiter war als ein Zufallsprodukt miteinander verschmolzener Zellen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher