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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier
Autoren: Philip Roth
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»Consuela, Consuela, Consuela« - jedesmal wenn ich aufstand, um zu pinkeln. Und wohlgemerkt: Sie hatte mir das ohne Worte angetan, ohne Vorsatz, ohne Gerissenheit, ohne einen Hauch von böser Absicht, ohne einen Gedanken an Ursache und Wirkung. Wie ein großer Sportler oder eine idealisierte Skulptur oder ein Tier, das man für einen kurzen Augenblick im Wald gesehen hat, wie Michael Jordan, wie ein Maillol, wie eine Eule, eine Wildkatze hatte sie es durch die Schlichtheit körperlicher Vollendung getan. In Consuela war nicht eine Spur von Sadismus. Nicht einmal jener Sadismus der Gleichgültigkeit, der oft mit solcher Perfektion einhergeht. Für diese Art von Grausamkeit war sie zu geradlinig und viel zu gutherzig. Doch man stelle sich vor, was sie mit mir hätte tun können, wenn sie nicht zu gut erzogen gewesen wäre, um die Amazonenkraft, die diese Vollkommenheit ihr verlieh, bis zum Äußersten auszunutzen; man stelle sich vor, was sie hätte tun können, wenn sie auch ein Amazonenbewußtsein besessen und mit der Berechnung eines Machiavelli ihre Wirkung erfaßt hätte. Glücklicherweise war sie, wie die meisten Menschen, nicht darin geübt, die Dinge zu durchdenken, und obgleich sie es war, die das, was zwischen uns geschah, möglich machte, begriff sie nie ganz, was eigentlich geschah. Hätte sie es begriffen und darüber hinaus nur ein kleines bißchen Geschmack daran gefunden, einen völlig vernarrten Mann zu quälen, dann wäre ich verloren gewesen, ganz und gar vernichtet durch meinen eigenen Weißen Wal.
    Doch nun war sie wieder da. Nein, auf keinen Fall! Nie wieder ein solcher Angriff auf meinen inneren Frieden!
    Aber dann dachte ich: Sie sucht nach mir, sie braucht mich, und zwar nicht als Liebhaber, nicht als Lehrer, nicht um ein neues Kapitel unserer erotischen Geschichte zu schreiben. Also wählte ich ihre Handy-Nummer und log und sagte, ich hätte noch etwas eingekauft und sei eben erst zurückgekommen, und sie sagte: »Ich sitze im Wagen. Als ich die Nachricht hinterlassen habe, stand ich vor deinem Haus.« Ich sagte: »Wieso fährst du am Silvesterabend in New York herum?« »Ich weiß nicht, wieso«, sagte sie. »Weinst du, Consuela?« »Nein, noch nicht.« »Hast du geläutet?« fragte ich. »Nein, ich habe mich nicht getraut.« »Du kannst immer bei mir läuten, immer. Das weißt du doch. Was ist los?« »Ich brauche dich, jetzt.« »Dann komm.« »Hast du Zeit?« »Für dich habe ich immer Zeit. Komm.« »Es ist wichtig. Ich bin gleich da.«
    Ich legte auf und wußte nicht, was ich erwarten sollte. Etwa zwanzig Minuten später hielt ein Wagen vor dem Haus, und im selben Augenblick, als ich ihr die Tür öffnete, wußte ich, daß etwas nicht in Ordnung war. Sie trug nämlich eine Mütze, die wie ein Fez aussah. Und das war etwas, was sie nie tragen würde. Sie hat dunkles, schwarzes Haar, glattes, geschmeidiges Haar, das sie immer pflegte, das sie immer wusch, bürstete, kämmte; alle zwei Wochen ging sie zum Friseur. Und jetzt stand sie da und hatte einen Fez auf dem Kopf. Außerdem trug sie einen modischen Mantel, einen beinahe knöchellangen schwarzen Persianermantel mit Gürtel, und als sie den Gürtel öffnete, sah ich unter dem Mantel die Seidenbluse und das Dekollete - wunderschön. Also umarmte ich sie, und sie umarmte mich, und dann gab sie mir ihren Mantel, und ich sagte: »Und dein Hut? Dein Fez?«, und sie sagte: »Lieber nicht. Die Überraschung wäre zu groß.« Ich sagte: »Warum?« Und sie sagte: »Weil ich sehr krank bin.«
    Wir gingen ins Wohnzimmer, und dort umarmte ich sie abermals, und sie preßte sich an mich, und man spürt ihren Busen, diesen phantastischen Busen, und man sieht über ihre Schultern den phantastischen Hintern. Man sieht ihren phantastischen Körper. Sie ist jetzt in den Dreißigern, zweiunddreißig, und nicht weniger schön, sondern eher noch schöner als zuvor, und ihr Gesicht, das irgendwie ein bißchen länger geworden zu sein scheint, ist noch viel fraulicher als früher - und sie sagt: »Ich habe keine Haare mehr. Im Oktober habe ich erfahren, daß ich Krebs habe. Ich habe Brustkrebs.« Ich sagte: »Wie furchtbar, das ist ja schrecklich, wie geht es dir, wie geht man mit so etwas um?« Ihre Chemotherapie hatte Anfang November begonnen, und bald darauf hatte sie alle Haare verloren. Sie sagte: »Ich muß dir die ganze Geschichte erzählen«, und wir setzten uns, und ich sagte: »Ja, erzähl mir alles.« »Also, meine Tante, die Schwester meiner
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