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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier
Autoren: Philip Roth
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eigenen, begrenzten ist, und man spürt noch schmerzlicher als sonst alles, was einem nicht gewährt wurde. Es ist, als würde man mit ein paar Zwanzigjährigen Baseball spielen. Man fühlt sich nicht wie Zwanzig, bloß weil man mit ihnen spielt. Man spürt in jeder Sekunde den Unterschied zwischen ihnen und einem selbst. Aber wenigstens sitzt man nicht am Spielfeldrand.
    Nein, es ist so: Man spürt voller Qual, wie alt man ist, aber man spürt es auf eine neue Weise.

 
Können Sie sich vorstellen, wie es ist, alt zu sein?
    Natürlich können Sie das nicht. Ich jedenfalls konnte es nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie es sein würde. Ich hatte nicht einmal ein falsches Bild - ich hatte gar keins. Und etwas anderes will ja auch niemand. Niemand will sich dem Alter stellen müssen, bevor er es muß. Wie wird es sein? Beschränktheit ist unerläßlich.
    Es ist verständlich, daß jedes zukünftige Lebensstadium unvorstellbar ist. Manchmal hat man eines bereits halb durchschritten, bevor man überhaupt merkt, daß man darin eingetreten ist. Außerdem bieten frühere Stadien einen gewissen Ausgleich. Dennoch hat die Mitte des Lebens für viele etwas Erschreckendes. Aber das Ende? Interessanterweise ist es das erste Lebensstadium, das man von außen betrachten kann, während man sich darin befindet. Man beobachtet (wenn man so viel Glück hat wie ich) seinen eigenen Verfall und hat, aufgrund seiner anhaltenden Vitalität, zugleich einen erheblichen Abstand zu diesem Verfall - ja man fühlt sich sogar unbeschwert und ganz und gar nicht davon betroffen. Gewiß, es gibt eine zunehmende Anzahl von Zeichen, die auf das unangenehme Ende hindeuten, und dennoch betrachtet man das alles von außen. Die Grausamkeit dieser Objektivität ist erbarmungslos.
    Man muß zwischen Sterben und Tod unterscheiden. Das Sterben ist kein ununterbrochener Prozeß. Wenn man gesund ist und sich wohl fühlt, ist das Sterben nicht wahrnehmbar. Das Ende ist gewiß, kündigt sich aber nicht unbedingt auffällig an. Nein, man kann es nicht verstehen. Solange man selbst nicht alt ist, versteht man nur, daß die Zeit den Alten ihren Stempel aufgedrückt hat. Doch wenn das alles ist, was man versteht, fixiert man sie in der Zeit, und das bedeutet, daß man eigentlich überhaupt nichts versteht. Alt zu sein bedeutet für alle, die noch nicht alt sind, daß man gewesen ist. Aber wenn Sie alt sind, bedeutet es, daß Sie trotz Ihrer Gewesenheit, zusätzlich zu Ihrer Gewesenheit, über Ihre Gewesenheit hinaus noch immer sind. Ihre Gewesenheit ist sehr lebendig. Sie sind noch immer, und dieses Noch-immer-Sein und seine Fülle verfolgen Sie ebenso wie die Gewesenheit, die Vergangenheit. Stellen Sie sich das Alter so vor: Es ist eine alltägliche Tatsache, daß Ihr Leben auf dem Spiel steht. Sie können dem Wissen um das, was Sie in Kürze erwartet, nicht entgehen. Die Stille, die Sie für alle Ewigkeit umgeben wird. Davon abgesehen ist alles wie immer. Davon abgesehen ist man unsterblich, solange man lebt.
    Vor nicht allzu langer Zeit gab es eine vorgegebene Art, alt zu sein, so wie es eine vorgegebene Art gab jung zu sein. Das gilt heute nicht mehr. Hier hat ein großer Kampf um das Zulässige stattgefunden - und auch eine große Umwälzung. Dennoch: Sollte sich ein Mann von Siebzig noch immer in den fleischlichen Aspekt der menschlichen Komödie verstricken lassen? Sollte er ungerührt darauf beharren, ein unkeuscher alter Mann zu sein, noch immer empfänglich für das, was Menschen erregt? Das ist nicht der Zustand, den einst Schaukelstuhl und Pfeife symbolisierten. Vielleicht stellt es auch heute noch einen gewissen Affront dar, sich nicht nach den althergebrachten Vorstellungen zu richten. Mir ist klar, daß ich nicht auf die in der Tugend begründeten Achtung anderer Erwachsener rechnen kann. Aber was kann ich daran ändern, daß - soweit ich es erkennen kann nichts je zur Ruhe kommt, ganz gleich, wie alt man ist?
    Nach dem Biß besuchte sie mich sehr selbstverständlich. Sobald sie begriffen hatte, wie leicht sie alles steuern konnte, ging es nicht mehr um abendliche Verabredungen und anschließendes Vögeln. Sie rief einfach an und sagte: »Kann ich für ein paar Stunden vorbeikommen?« Sie wußte, daß ich niemals nein sagte, so wie sie wußte, daß sie sich nur auszuziehen brauchte, daß sie nur dazustehen brauchte, um mich sagen zu hören: »Donnerwetter«, als wäre sie ein Picasso. Ich, ihr Professor für Praktische Kritik, der sonntagmorgendliche
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