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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Autoren: Britta Hasler
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kein Wort mit ihm gesprochen habe“, antwortete Julius. „Weil er mich verfolgt wie eine Ratte das Abwasser.“
    „Na, wenn Sie so eine hohe Meinung von Ihrer Familie haben, dann sollte ich Sie am besten gleich rausschmeißen!“
    Das war die Antwort der Wirtin Hanak gewesen. Und deswegen stand Julius Pawalet jetzt zögerlich vor den Toren des Friedhofs und wartete, dass seine steif gefrorenen Beine den ersten Schritt taten. Kurz nach Vollendung seines 16. Lebensjahres hatte sein Vater ihn verlassen, weil er hemmungslos an der Flasche hing, in der Hoffnung, an der scharfen Flut zu ertrinken. Was ihm nicht gelungen war, denn in den folgenden Jahren erholte er sich von diesen Dämonen und versuchte verzweifelt, wieder Kontakt zu seinem einzigen Sohn aufzunehmen. Julius Pawalet hatte auf seinen Vater reagiert wie ein verschuldeter Großanleger auf seine Gläubiger. Er war davongerannt und hatte sich versteckt.
    Hätte Inspektor Rudolph Lischka, ein Agent des k. u. k. Sicherheitsamtes, der in den nächsten Tagen den eigenartigen Tod der Frau mit dem Schlangenbiss untersuchen würde, ein kurzes Profil von Julius Pawalet erstellen sollen, wäre es folgendermaßen ausgefallen: mangelnder gesellschaftlicher Umgang aufgrund eines schlechten, haltlosen Lebenswandels.
    Der zitternde Mann vor den Friedhofstoren machte nicht nur seinen Erzeuger verantwortlich für seinen elenden Werdegang. Aber er war sich bewusst, dass vielleicht alles anders wäre, hätte seine Mutter nicht bei seiner Geburt ihr Leben verloren.
    Julius Pawalet hatte vor einigen Tagen in einer alten Zeitung in einer Anzeige des Friedhofamtes gelesen, dass der Wiener Zentralfriedhof dringend Bestattungshelfer brauchte.
    Kaum hatte Julius sich mit schlotternden Beinen in das kleine Büro des Bestattungsdirektors geschleppt, wurde er auch schon nach seinem Namen gefragt.
    „Pawalet?“, echote der beleibte Mann mit dem schwarzen Samtanzug, „Den Namen kenn ich doch irgendwoher …“
    „Ist, glaube ich, ein häufiger Name in Wien“, antwortete Julius, während er begierig auf den dampfenden Teekessel auf dem Schreibtisch des Mannes starrte. Er stellte sich vor, wie es wäre, heißen, starken Tee in seine erfrorene Magengrube rinnen zu lassen. Er hätte sich mit Freude die Zunge an heißem Tee verbrannt, Hauptsache, er bekäme endlich einmal wieder etwas zum Runterschlucken. Etwas Warmes, das den abgehackten Totentanz in seinen Eingeweiden auflösen würde.
    „Nein, heut’ erst hab ich diesen Namen irgendwo gelesen…“, sagte der Bestattungsdirektor und blickte zerstreut auf seinen Schreibtisch. „Ah, da ist es ja!“, rief er und zog ein beschriftetes Blatt Papier hervor. Die Buchstaben darauf waren klein und eng gesetzt wie Ameisen in einer Warteschlange. Der Finger des Mannes fuhr auf dem Blatt nach unten, ehe er ein lautes „Da!“ hervorstieß. Und dann: „Sind Sie vielleicht verwandt mit einem Joseph Pawalet?“
    Julius zuckte zusammen. Er schwanke kurz und murmelte: „Nein, den kenne ich nicht.“
    Da hob der Bestattungsdirektor den Kopf und starrte ihn an. „Er sieht Ihnen aber ziemlich ähnlich, finde ich.“
    „Was soll das?“, fragte Julius in schroffem Tonfall. „Arbeitete der Herr etwa auch hier auf dem Zentralfriedhof?“
    „Sie sind zerstritten mit ihm, was?“, fragte der Mann hinter der dampfenden Teekanne. „Na, es gibt viele, die mit ihrem alten Herrn nicht zurechtkommen. Ist nicht ganz selten in dieser zerrissenen Zeit. Das ist er doch, oder? Ihr Vater?“
    Julius Pawalets Schultern sanken nach unten. So hatte er sich sein Einstellungsgespräch nicht vorgestellt.
    „Er liegt noch in der Aussegnungshalle“, klärte der Direktor ihn auf. „Die Beerdigung ist um die Mittagszeit. Ich an Ihrer Stelle würde da hingehen. Ist Ihre letzte Möglichkeit.“
    „Für was?“, fragte Julius.
    „Das müssen Sie selber wissen.“
    Dann wandte er sich wieder seinen Papieren zu und tat so, als wäre Julius Pawalet nur ein lästiger Windhauch gewesen, den man durch das Schließen des Fensters ausgeschlossen hatte.
    „Ich bekomme sie nicht, was?“, fragte Julius, durch die Hoffnungslosigkeit seiner Lage gleichgültig geworden.
    „Was, bitte?“ Der Mann hob kaum den Kopf.
    „Die Anstellung als Bestattungshelfer?“
    „Nein, also die Anstellung kann ich Ihnen nicht geben. Leider. Wir haben zwar Personalmangel hier, aber … man braucht Würde für diese Arbeit, wissen Sie? Erhabenheit, Ruhe, Trost. Das alles sollen Sie ausstrahlen und
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