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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Autoren: Britta Hasler
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Wortstämme mit unterschiedlichen Bedeutungen im Syro-Aramäischen und im Arabischen hätten zu Fehlern geführt, als der Koran aus einem arabischen Verständnis heraus schriftlich niedergelegt wurde.
    Nach dieser Einleitung wurde es Sarah dann doch zu linguistisch, und sie übersprang einen Absatz, in dem die Bedeutung der diakritischen Punkte und der Vokalzeichen in der arabischen Schrift ausführlich erklärt wurden.
    »Politischer Zündstoff«, las Sarah und stutzte.
    Diese Zwischenüberschrift und der darauffolgende Absatz waren ihr beim Querlesen völlig entgangen. Nach der Lesart des Arabisten Vanderbek handelte es sich bei den Paradiesjungfrauen in Wirklichkeit um weiße Trauben und beim islamischen Kopftuch um einen Gürtel, den Frauen sich um die Hüften schlingen sollten. Der Verfasser des Zeitungsartikels ging nun dazu über, die politische Brisanz der Koranstudie zu unterstreichen und verwies auf die Selbstmordattentäter, die mit den ewigen Jungfrauen, die sie im Paradies erwarten, geködert werden . Nach einer etwas kürzeren Erörterung jener christlichen Elemente im Koran, die Vanderbek mit seiner Analyse zu belegen versuchte, wurde abschließend der Verleger Uwe Retzlaff zitiert. Zu Sarahs Verblüffung stammte der Ausdruck politischer Zündstoff von ihm. Er erklärte damit, warum der Autor des Buches ein Pseudonym benutzte.
    Merkwürdig , dachte Sarah, legte die Zeitung zusammen und sah sich noch einmal den Drohbrief an. Uwe Retzlaff hatte vorher immer argumentiert, dass sich das Werk an einen begrenzten Kreis von Wissenschaftlern richtete, und dass somit nichts zu befürchten war. Nicht zuletzt hatte er damit Jamils Bedenken zerstreut. Und jetzt hob Retzlaff die Brisanz dieser Veröffentlichung hervor!
    Sarah schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch, so dass der Kater erschrocken von ihrem Schoß sprang und aus der Küche galoppierte. Sie blickte dem Vierbeiner in Gedanken versunken hinterher.
    Warum hat Jamil nichts erzählt? Wenn das die dritte Warnung ist, muss er schon zwei erhalten haben.
    Lag es daran, dass sie seit dem Tod ihrer Lebensgefährtin zu sehr mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt war? Sarah hatte des Öfteren den Eindruck, dass ihre Freunde sie seitdem mit Samthandschuhen anfassten.
    Habe ich Jamil vielleicht nicht richtig zugehört? Oder hat er die Briefe einfach ignoriert?
    ***
    Das schöne Wetter hielt an. Der Himmel war immer noch wolkenlos, und die Temperatur war seit dem Vortag sogar leicht gestiegen. Mangels Neuigkeiten schienen sich die Meteorologen vor allem mit ihren Statistiken und dem hundertjährigen Kalender zu beschäftigen. War anfangs im Wetterbericht noch von einem ungewöhnlich warmen Herbst die Rede, so sprach man inzwischen vom wärmsten Oktober seit Menschengedenken oder, etwas bescheidener ausgedrückt, seit dreißig Jahren.
    Von weitem konnte Sarah sehen, dass auf dem Viktoria-Luise-Platz ziemlich viel los war. Pärchen mit oder ohne Kinder, die das milde Wetter für einen sonntäglichen Spaziergang nutzten oder auf dem Weg zu einem der Lokale waren, in denen man bis zum späten Nachmittag ausgiebig frühstücken konnte. Bestimmt waren die Bänke um den großen Brunnen herum von älteren Leuten besetzt, die im Laufe des Tages der örtlichen Jugend weichen würden.
    Sarah drückte die Nase an die Schaufensterscheibe. Den Brief und den Umschlag hatte sie in zwei Klarsichthüllen gepackt, um sie vor weiteren Fingerabdrücken zu schützen. Weit hinten im Geschäft sah sie einen Schatten vorbeihuschen. Sie gestikulierte wild, um auf sich aufmerksam zu machen, doch anscheinend bemerkte niemand sie.
    Unschlüssig, ob sie an diesem beschaulichen Sonntagmorgen an die Glastür hämmern sollte, trat sie einen Schritt zurück und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild in der Schaufensterscheibe. Je länger ihre glatten braunen Haare wurden, desto schmaler und strenger wirkte ihr Gesicht. Es war Zeit, zum Friseur zu gehen.
    Ich werde alt , dachte sie. 42 hin oder her. Seit Lottes Tod werde ich plötzlich alt. Auch wenn alle sagen, dass das nicht stimmt.
    Sarah strich sich mit der Hand die Haare nach hinten und drehte leicht den Kopf, um ihr Profil zu begutachten. Sie war so mit ihrem Spiegelbild beschäftigt, dass sie Jamil gar nicht kommen sah. Aufgeschreckt durch das Quietschen der Tür, wandte sie ihm das Gesicht zu. Sein Oberhemd war wie immer perfekt gebügelt, und die graue Stoffhose betonte seine schlanke Figur.
    »Hereinspaziert!«
    Die Aufforderung passte
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