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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Autoren: Irvin D. Yalom
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kastanienfarbenen Haares hängt ihm im genau richtigen Winkel in die Stirn. Seine Augen sind nicht von dunklen Ringen umschattet – diese werden später kommen. Er hält sein Kinn hoch. Vielleicht ist er trotzig, doch seine Fäuste, die er immer wieder ballt und löst, signalisieren Besorgnis.
    Er sieht wie alle und wie keiner aus. Er ist jetzt fast ein Mann und hat ein ganzes Leben vor sich. In acht Jahren wird er von Reval nach München reisen und ein äußerst reger antibolschewistischer und antisemitischer Journalist werden. In neun Jahren wird er bei einer Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei die aufwühlende Rede eines neuen Hoffnungsträgers hören, eines Veteranen des Ersten Weltkriegs namens Adolf Hitler, und Alfred wird bald nach Hitler der Partei beitreten. In zwanzig Jahren wird er seinen Stift zur Seite legen und triumphierend lächeln, nachdem er die letzte Seite seines Buches Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts beendet hat. Als Bestseller mit Millionenauflage wird es viel vom ideologischen Fundament der NSDAP enthalten und eine Rechtfertigung für die Vernichtung der europäischen Juden liefern. In dreißig Jahren werden seine Truppen ein kleines, holländisches Museum in Rijnsburg stürmen und Spinozas persönliche Bibliothek mit einhunderteinundfünfzig Bänden konfiszieren. Und in sechsunddreißig Jahren wird er verwirrt aus seinen schwarz umschatteten Augen schauen und den Kopf schütteln, während der amerikanische Henker in Nürnberg ihn fragt: »Wollen Sie noch etwas sagen?«
    Der junge Alfred hört das Echo sich nähernder Schritte im Korridor, und als er Herrn Schäfer, seinen Vertrauenslehrer und Deutschlehrer, erblickt, springt er auf die Füße, um ihn zu grüßen. Herr Schäfer runzelt nur die Stirn und schüttelt langsam den Kopf, geht an ihm vorbei und öffnet die Tür zum Büro des Direktors. Doch kurz bevor er eintritt, hält er inne, dreht sich zu Alfred um und flüstert ihm nicht unfreundlich zu: »Rosenberg, du hast mich und uns alle mit deiner Rede gestern Abend enttäuscht. Deine erbärmliche Bewertung ist nicht damit vergessen, dass du zum Klassensprecher gewählt wurdest. Selbst jetzt noch glaube ich daran, dass du kein ganz und gar hoffnungsloser Fall bist. Schon in ein paar Wochen wirst du deinen Abschluss machen. Sei jetzt nicht töricht.«
    Die Wahlrede gestern Abend! Ach, das ist es also. Alfred schlägt sich mit der Hand an den Kopf. Natürlich – deshalb haben sie mich hierher zitiert! Obwohl fast alle vierzig Mitschüler seiner Abschlussklasse versammelt waren – hauptsächlich baltische Deutsche, aber hier und da auch ein paar Russen, Esten, Polen und Juden –, hatte Alfred seine Wahlrede absichtlich ausschließlich an die deutsche Mehrheit gerichtet und sie aufgestachelt, indem er von ihrer Mission als Bewahrer der edlen deutschen Kultur sprach. »Haltet unsere Rasse rein«, hatte er ihnen zugerufen. »Schwächt sie nicht dadurch, dass ihr unsere edlen Traditionen vergesst, minderwertiges Gedankengut annehmt, euch mit minderwertigen Rassen mischt.« Vielleicht hätte er es dabei bewenden lassen sollen. Aber dann waren die Pferde mit ihm durchgegangen. Vielleicht war er zu weit gegangen.
    Er wird aus seinen Gedanken gerissen, als sich die gut drei Meter hohe, massive Tür öffnet und Direktor Epsteins dröhnende Stimme erschallt: »Herr Rosenberg, bitte, herein.«
    Alfred tritt ein und sieht seinen Direktor und seinen Deutschlehrer an einem Ende eines langen, schweren, dunklen Holztisches sitzen. Alfred kommt sich in Gegenwart des über einen Meter achtzig großen Direktors Epstein immer klein vor. Dessen würdevolle Haltung, die stechenden Augen und sein dichter, akkurat gestutzter Bart unterstreichen seine Autorität noch.
    Direktor Epstein bedeutet Alfred, sich auf einen Stuhl am anderen Ende des Tisches zu setzen. Er ist merklich niedriger als die beiden großen Stühle mit den hohen Lehnen am gegenüberliegenden Ende. Der Direktor kommt ohne Umschweife direkt zum Punkt: »Nun, Rosenberg, ich habe jüdische Vorfahren, nicht wahr? Und meine Frau ist auch Jüdin, nicht wahr? Und Juden sind eine minderwertige Rasse und sollten Deutsche nicht unterrichten? Und wie ich vermute, ganz bestimmt nicht zum Direktor erhoben werden?«
    Keine Antwort. Alfred atmet aus, versucht, sich in seinem Stuhl noch kleiner zu machen, und lässt den Kopf hängen.
    »Rosenberg, stelle ich Ihre Auffassung richtig dar?«
    »Herr Direktor … äh, ich sprach zu unüberlegt. Meine
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