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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel
Autoren: Stephen King
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luftgefüllten Puppen denken, an ihre rosa Haut, die faltenlosen Trickfilmkörper und konturlosen Gesichter, und empfand eine Art staunender Offenbarung. Es war kein Entsetzen – noch nicht -, aber ein grelles Licht flammte in ihrem Inneren auf, und die Landschaft, die es erhellte, war eindeutig furchteinflößender als dieses dumme Spiel oder die Tatsache, dass sie es dieses Mal im Sommerhaus am See spielten, allerdings lange nachdem sich der Sommer wieder für ein Jahr verabschiedet hatte.
    Das alles hatte ihr Gehör nicht im Geringsten beeinträchtigt. Jetzt zum Beispiel hörte sie eine Motorsäge, die in einiger Entfernung im Wald schnarrte – möglicherweise fünf Meilen entfernt. Nicht so weit weg, über dem Hauptausläufer des Kashwakamak Lake, schmetterte ein Eistaucher, der seinen jährlichen Flug nach Süden säumig antrat, seinen irren Schrei in die blaue Oktoberluft. Noch näher, irgendwo hier am Nordufer, bellte ein Hund. Es war ein hässlicher, würgender Laut, aber Jessie fand ihn seltsam tröstlich. Er bedeutete, dass noch jemand hier oben war, Mitte der Woche und Oktober hin oder her. Sonst war nur noch die Tür zu hören, die haltlos wie ein alter Zahn in verfaultem Zahnfleisch gegen den aufgequollenen Rahmen schlug. Sie dachte, wenn sie sich das noch lange anhören musste, würde sie verrückt werden.
    Gerald, der mittlerweile bis auf die Brille nackt war, kniete sich aufs Bett und kam auf sie zugekrochen. Seine Augen glänzten immer noch.
    Sie hatte eine Ahnung, dass dieser Glanz sie veranlasst hatte, das Spiel weiterzuspielen, nachdem ihre anfängliche Neugier schon längst befriedigt war. Es war Jahre her, seit sie so viel Hitze in Geralds Blick bemerkt hatte, wenn er sie ansah. Sie sah nicht schlecht aus – es war ihr gelungen, die Pfunde fernzuhalten, und ihre Figur war weitgehend wie früher -, aber Geralds Interesse hatte trotzdem nachgelassen. Sie vermutete, dass der Fusel teilweise die Schuld daran trug – er trank wesentlich mehr als am Anfang ihrer Ehe -, aber sie wusste, dass es nicht ausschließlich am Fusel lag. Wie ging noch gleich das alte Sprichwort, wonach Vertrautheit die Mutter der Gleichgültigkeit war? Das sollte auf Männer und Frauen, die sich liebten, eigentlich nicht zutreffen, zumindest nicht den romantischen Dichtern zufolge, die sie im Grundseminar Englische Literatur gelesen hatte, aber in den Jahren seit dem College hatte sie feststellen müssen, dass es gewisse harte Tatsachen des Lebens gab, über die John Keats und Percy Shelley nie geschrieben hatten. Aber freilich waren die auch ziemlich jung gestorben – jedenfalls jünger als sie und Gerald jetzt waren.
    Und das alles spielte hier und jetzt überhaupt keine Rolle. Eine Rolle spielte möglicherweise nur, dass sie dieses Spiel länger, als sie wirklich wollte, mitspielte, weil ihr der heiße Glanz in Geralds Augen so gefallen hatte. Sie fühlte sich jung und hübsch und begehrenswert. Aber …
    … aber wenn du wirklich gedacht hast, dass er dich sieht, wenn er diesen Glanz in den Augen hat, Süße, dann hast du dich getäuscht. Oder hast dich täuschen lassen. Und jetzt musst du dich vielleicht entscheiden – wirklich, wirklich entscheiden -, ob du diese Demütigung weiter auf dich nehmen willst. Denn fühlst du dich nicht genau so? Gedemütigt?
    Sie seufzte. Ja. Das kam hin.
    »Gerald, es ist mein Ernst.« Sie sprach jetzt lauter, und zum ersten Mal flackerte der Glanz in seinen Augen ein wenig. Gut.
    Es schien, als könnte er sie doch hören. Demnach war vielleicht doch alles in Ordnung. Nicht toll, es war lange her, seit alles, wie man sagen könnte, toll gewesen war, aber in Ordnung. Dann erschien der Glanz wieder, und einen Moment später folgte das idiotische Grinsen.
    »Ich werde dich lehren, stolze Schönheit mein«, sagte er. Das sagte er wahrhaftig, und er sprach Schönheit wie ein Gutsbesitzer in einem schlechten viktorianischen Melodram aus.
    Dann lass ihn gewähren. Lass ihn einfach gewähren, und bring es hinter dich.
    Das war eine Stimme, die ihr weitaus vertrauter war, und sie hatte die Absicht, ihrem Rat zu folgen. Sie wusste nicht, ob Gloria Steinham das billigen würde, und es war ihr einerlei; der Rat besaß die Attraktivität des durch und durch Praktischen. Lass ihn gewähren, und du hast es hinter dich gebracht. q. e. d.
    Dann streckte er die Hand aus – seine weiche Hand mit den kurzen Fingern, deren Haut so rosa war wie die auf der Spitze seines Penis – und berührte ihre Brust,
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