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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers
Autoren: Jaume Cabré
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was willst du denn arbeiten, du Kindskopf?«
    »Ich weiß es nicht, aber wenn ich aus den Tälern weggehe, sterbe ich!«
    »Wenn du heute Nacht nicht verschwindest, werde ich dich höchstpersönlich umbringen. Hast du jetzt verstanden?«
    »Vater …«
    »Niemand aus Moena wird Hand an eines meiner Kinder legen.«
    Und so nahm Jachiam Mureda Abschied von seinem Vater und küsste nacheinander alle seine Geschwister: Agno, Jenn, Max und ihre Frauen; Hermes, Josef, Theodor und Micurà; Ilse und Erika und ihre Männer; und zuletzt Katharina, Matilde, Gretchen und Bettina. Alle waren sie gekommen, um ihm stumm Lebewohl zu sagen, und als er schon an der Tür war, rief die kleine Bettina »Jachiam«, und er drehte sich um und sah, wie das Mädchen die Hand nach ihm ausstreckte. Sie hielt ihm das Medaillon der Muttergottes dai Ciüf von Pardàc hin, das die Mutter ihr auf dem Totenbett anvertraut hatte. Schweigend musterte Jachiam die Geschwister, dann sah er den Vater an, und dieser nickte wortlos. Da ging er zu dem Mädchen, nahm das Medaillon und sagte: »Meine kleine Bettina, ich werde es tragen, bis ich sterbe«, und er wusste nicht, wie recht er damit hatte. Und Bettina strich ihm mit ihren beiden kleinen Händen über die Wangen, ohne zu weinen. Jachiam ging mit tränennassen Augen hinaus, murmelte am Grab der Mutter ein kurzes Gebet und verschwand in derselben Nacht, zog hinauf ins Gebirge, in den ewigen Schnee, hinter dem ein neues Leben, eine neue Geschichte und neue Erinnerungen auf ihn warteten.
    »Weiter haben Sie nichts?«
    »Wir sind ein Antiquitätengeschäft«, sagte Cecília in dem eisigen Tonfall, mit dem sie Männer gern in Verlegenheit brachte, und fuhr ein wenig spöttisch fort: »Versuchen Sie es doch mal in einem Musikgeschäft.«
    Mir gefiel Cecília, wenn sie grimmig tat. Dann war sie noch hübscher als sonst. Sogar hübscher als Mutter. Als Mutter zu jener Zeit.
    Von dort, wo ich stand, konnte ich Senyor Berenguers Büro sehen. Ich hörte, wie Cecília den enttäuschten Kunden, der immer noch seinen Hut auf dem Kopf trug, hinausbegleitete, und während das Läuten der Türglocke und Cecílias »Auf Wiedersehen, der Herr« erklangen, hob Senyor Berenguer den Kopf und zwinkerte mir zu.
    »Adrià.«
    »Ja.«
    Er hob die Stimme: »Wann wirst du abgeholt?«
    Ich zuckte mit den Achseln. Ich wusste nie genau, wann ich wo sein sollte. Meine Eltern wollten mich nicht allein zu Hause lassen und brachten mich, wenn beide ausgingen, in den Laden. Ich hatte nichts dagegen, denn so konnte ich mir in Ruhe die unglaublichsten Gegenstände ansehen, die schon ein ganzes Leben hinter sich hatten und nun geduldig auf ihre zweite, dritte oder vierte Chance warteten. Zum Zeitvertreib malte ich mir dann gerne ihr Leben in den verschiedensten Häusern aus.
    Irgendwann kam dann Lola Xica, um mich abzuholen, stets in Eile, weil sie das Abendessen machen musste und noch nichts vorbereitet hatte. Darum zuckte ich mit den Schultern, als Senyor Berenguer mich fragte, wann ich abgeholt würde.
    »Komm her«, sagte er und winkte mit einem leeren Blatt Papier. »Setz dich an den Tudor-Tisch und mal ein bisschen.«
    Ich habe nie gern gemalt, weil mir das nicht liegt, und zwar kein bisschen. Darum habe ich immer dein zeichnerisches Talent bestaunt, das mir wie ein Wunder erschien. Senyor Berenguer schlug mir vor, ein bisschen zu malen, weil es ihn nervös machte, wenn ich nichts tat, was ja gar nicht stimmte, weil ich die Zeit mit Nachdenken verbrachte. Aber Senyor Berenguer durfte man nicht widersprechen. Also setzte ich mich an den Tudor-Tisch und tat beschäftigt, damit er Ruhe gab. Ich holte Schwarzer Adler aus der Tasche und versuchte, ihn zu zeichnen. Armer Schwarzer Adler, sollte er sich je auf diesem Blatt Papier sehen … Übrigens hatte Schwarzer Adler noch keine Zeit gehabt, Sheriff Carson kennenzulernen, denn ich hatte ihn gerade erst am Morgen von Ramon Coll gegen meine Weiss-Mundharmonika eingetauscht. Wenn Vater das erfährt, bringt er mich um.
    Senyor Berenguer war ein seltsamer Mensch; wenn er lächelte, fürchtete ich mich ein wenig vor ihm, und ich konnte ihm nicht verzeihen, dass er Cecília wie eine Dienstmagd behandelte. Aber er wusste mehr als jeder andere über meinen Vater, den großen Unbekannten.

2
    An einem nebligen Morgen am zweiten Donnerstag im September legte die Santa Maria in Ostia an. Die Überfahrt von Barcelona war schlimmer gewesen als die Reise des Äneas auf der Suche nach seiner Bestimmung
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