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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers
Autoren: Jaume Cabré
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Fèlix; am Empfang habe der dicke, kahle Hausmeister einen Blick in die Papiere geworfen, Ardevole? Cinquantaquattro gesagt und ihm die Schlüssel ausgehändigt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Morlin nahm ihm das nicht ab, lachte aber herzlich.
    In der knappen Woche vor Kursbeginn machte Morlin ihn mit den acht oder neun Studenten aus dem zweiten Jahr bekannt, mit denen er verkehrte, riet ihm, sich mit niemandem abzugeben, der nicht an der Gregoriana oder dem Istituto Biblico studierte, weil das nur Zeitverschwendung sei, zeigte ihm, wie man sich hinter dem Rücken des Zerberus, der den Eingang bewachte, aus dem Wohnheim stahl, legte ihm nahe, weltliche Kleidung für ihre heimlichen Ausflüge bereitzuhalten, und erklärte den Neulingen die spektakulärsten Bauwerke auf dem Weg vom Wohnheim zur Universität. Er sprach ein gut verständliches, wenn auch von französischem Akzent geprägtes Italienisch. Und er schärfte ihnen ein, sich von denJesuiten der Gregoriana fernzuhalten, die einem ruckzuck eine Gehirnwäsche verpassten.
    Am letzten Tag vor Kursbeginn versammelten sich die alten und die neuen Studenten aus aller Welt im gewaltigen Festsaal des Palazzo Gabrielli-Borromeo im Hauptgebäude der Universität, und der Padre Decanus der Pontifica Università Gregoriana del Collegio Romano, Pater Daniele D’Angelo SJ, rief ihnen in untadeligem Latein ins Bewusstsein, wie glücklich und privilegiert sie sich fühlen dürften, »an allen Fakultäten der Pontifica Università Gregoriana et cetera et cetera et cetera studieren zu können. Wir dürfen uns rühmen, namhafte Männer unter unsere Absolventen zu zählen, darunter einige Päpste wie den seligen Leo XIII. Alles, was wir von euch verlangen, ist Eifer, Eifer und nochmals Eifer. Ihr sollt hier lernen, lernen und nochmals lernen, und zwar bei den besten Lehrmeistern in Theologie, Kirchenrecht, Spiritualität, Kirchengeschichte et cetera et cetera et cetera.«
    »Pater D’Angelo heißt bei uns D’Angelodangelodangelo«, flüsterte Morlin ihm ins Ohr.
    »Und nach Beendigung eures Studiums zieht ihr hinaus in die Welt, kehrt zurück in eure Länder, in eure Seminare, in die Schulen eures Ordens; wer bis dahin noch kein Priester ist, wird die Weihe empfangen, und ihr werdet dafür Sorge tragen, dass alles, was man euch in diesem Hause gelehrt hat, Früchte trägt.« Und so weiter und so weiter und so weiter, geschlagene fünfzehn Minuten lang, und dazu praktische Ratschläge, vielleicht nicht ganz so praktisch wie die von Morlin, aber äußerst hilfreich für den Alltag. Fèlix Ardèvol dachte, dass es viel schlimmer hätte kommen können; dass die Orationes Latinae in Vic manchmal wesentlich langweiliger gewesen waren als die handfesten Anweisungen, die man ihnen hier erteilte.
    Die ersten Monate bis nach Weihnachten lief alles wie am Schnürchen. Fèlix Ardèvol bewunderte vor allem den Scharfsinn Pater Falubas, eines slowakisch-ungarischen Jesuiten mit schier unbegrenztem Bibelwissen, und die geistige Strengedes hochfahrenden Paters Pierre Blanc, der über die Offenbarung und ihre kirchliche Vermittlung lehrte und – obwohl er ebenfalls aus Liège stammte – Morlin mit seinem Vortrag über die Annäherung an die Marientheologie in der Abschlussprüfung durchrasseln ließ. Auch freundete Fèlix sich mit Drago Gradnik an, der in drei Fächern neben ihm saß, ein rotgesichtiger slowenischer Riese aus dem Priesterseminar in Ljubljana, dessen Stiernacken das Kollar zu sprengen drohte. Sie redeten wenig miteinander, obwohl Gradnik fließend Latein sprach, aber beide waren schüchtern und verwendeten all ihre Energie darauf, die zahllosen Türen zur Weisheit zu durchschreiten, die ihnen das Studium auftat. Während Morlin jammerte und seinen Freundes- und Bekanntenkreis stetig erweiterte, schloss sich Ardèvol in seinem Zimmer ein und entdeckte neue Welten im paläographischen Studium von Papyrusrollen und anderen biblischen Dokumenten in demotischem Ägyptisch, Koptisch, Griechisch oder Aramäisch, die ihnen Pater Faluba anschleppte. Der Pater war es auch, der sie die Liebe zu diesen Dingen lehrte. Ein zerstörtes Manuskript, so wurde er nicht müde zu betonen, ist für die Forschung nutzlos. Man muss es restaurieren, und zwar um jeden Preis. Und die Rolle des Restaurators ist ebenso wichtig wie die des Forschers, der es entziffert. Und er sagte nicht et cetera et cetera et cetera, weil er immer genau wusste, wovon er redete.
    »Schwachsinn«, erklärte Morlin
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