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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers
Autoren: Jaume Cabré
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zwölf Jahren in Brasilien umgebracht hat. Jahrelang wusste ich nicht mehr über Stefan Zweig, als dass er irgend so ein Kerl war, der sich vor zehn, zwölf, dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahren in Brasilien umgebracht hatte; bis ich dann das Manuskript lesen konnte und ein wenig mehr über ihn erfuhr.
    Und dann war die Besuchszeit zu Ende, und Adrià verließ das Arbeitszimmer mit der Ermahnung, bloß keinen Lärm zu machen: Zu Hause durfte man nicht rennen und nicht schreien, nicht einmal mit der Zunge schnalzen, denn wenn Vater nicht gerade ein Manuskript unter die Lupe nahm, kontrollierte er seinen Bestand mittelalterlicher Landkarten oder überlegte sich, wie er an die Neuerwerbungen gelangen könnte, nach denen es ihn in den Fingern juckte. Der einzig zulässige Lärm war, in meinem Zimmer Geige zu üben. Aber ich konnte ja schlecht den ganzen Tag das Arpeggio Nr. XXIII aus dem Livro dos exercícios da velocidade rauf und runter spielen, das mich dazu brachte, die Trullols zu hassen, mir aber die Freude am Geigespielen nicht verdarb. Nein, ich hasste die Trullols nicht. Aber sie ging mir auf die Nerven, vor allem, weil sie so sehr auf der Übung XXIII bestand.
    »Ich meine ja nur, ein bisschen Abwechslung wäre nicht schlecht.«
    »Hier« – und sie klopfte mit der Spitze des Geigenbogens auf die Partitur – »findest du alle Schwierigkeiten auf einer einzigen Seite. Diese Übung ist einfach ingeniös.«
    »Aber ich …«
    »Bis Freitag will ich die XXIII fehlerfrei. Einschließlich Takt 27.«
    Manchmal war die Trullols einfach blöd. Aber meistens fand ich sie eigentlich ganz passabel. Und manchmal mehr als das.
    Bernat war der gleichen Ansicht. Als ich O livro dos exercícios da velocidade durchnahm, kannte ich Bernat noch nicht. Aber über die Trullols waren wir uns einig. Sie muss wohl eine gute Lehrerin gewesen sein, auch wenn sie, soviel ich weiß, nicht in die Geschichte eingegangen ist. Ich glaube, ich muss meine Gedanken erst einmal ordnen, ich bringe alles durcheinander. Ja, gewisse Dinge weißt du schon, vor allem die, die dich betreffen. Aber es gibt Teile meiner Seele, von denen du vermutlich nichts weißt, weil es schlicht unmöglich ist, einen anderen Menschen ganz und gar zu kennen, selbst wenn …
    Obwohl der Laden eindrucksvoller war als das häusliche Arbeitszimmer, mochte ich ihn weniger, vielleicht weil ich mich bei meinen Besuchen – die kaum häufiger waren als die im Arbeitszimmer – unwillkürlich überwacht fühlte. Allerdings bot der Laden den Vorteil, dass ich dort die wunderschöne Cecília betrachten konnte, in die ich bis über beide Ohren verliebt war. Ihr stets sorgfältig frisiertes Haar war galaktisch blond, und sie hatte leuchtend rote volle Lippen. Und immer war sie mit ihren Katalogen und Preislisten zugange, schrieb Etiketten oder begrüßte die wenigen Kunden mit einem Lächeln, das ihre vollkommenen Zähne aufblitzen ließ.
    »Haben Sie Musikinstrumente?«
    Der Mann, der vor Cecília stand, hatte nicht einmal den Hut abgenommen. Er sah sich um: Lampen, Leuchter, Kirschbaumstühle mit feinen Intarsien, Sofas aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, Vasen aller Größen und aller Epochen … Mich nahm er gar nicht wahr.
    »Nur ein paar wenige, aber wenn Sie mir folgen wollen …«
    Diese paar wenigen waren zwei Geigen und eine Bratsche mit mäßigem Klang, aber wie durch ein Wunder unversehrten Darmsaiten; des Weiteren eine zerbeulte Tuba, zweiprächtige Waldhörner und eine Trompete, die der Gemeindediener des Tals verzweifelt geblasen hatte, um die Menschen der umliegenden Täler zu warnen, dass der Wald von Paneveggio brannte und die Einwohner von Pardàc die Nachbardörfer um Hilfe baten, selbst die von Welschnofen, bei denen es kürzlich ebenfalls gebrannt hatte, und auch die von Moena und Soraga, denen vielleicht der alarmierende Brandgeruch schon um die Nase wehte. Man schrieb das Jahr 1690, und die Erde war rund für beinahe jedermann: Wenn ein Schiff in Richtung Westen aufbrach und unbekannten Krankheiten, gottlosen Wilden, Land- und Meerungeheuern, Eis, Sturm und Regenfluten entging, kehrte es von Osten her zurück, die Seeleute hagerer und ausgezehrter, mit verlorenem Blick, ihre Nächte von Albträumen erfüllt. Und im Sommer dieses Jahres 1690 lief in Pardàc, Moena und den benachbarten Ortschaften alles zusammen, was Beine hatte, und starrte auf das Unglück, das ihnen, dem einen mehr, dem anderen weniger, die Lebensgrundlage zerstörte. Ohnmächtig
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