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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers
Autoren: Jaume Cabré
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täglich aufräumen musste, jeden Tag alle Spielsachen, dieich benutzt hatte. Nur Sheriff Carson und Schwarzer Adler kamen davon, weil sie heimlich bei mir schliefen, was Vater nie erfuhr.
    Im Zimmer 54 war alles in peinlicher Ordnung. Und Fèlix Ardèvol stand am Fenster, beobachtete die geschäftigen Soutanen, die im Wohnheim ein und aus gingen. Und eine Pferdekutsche, die die Via del Corso entlangfuhr und in ihrem Innern empörende, unaussprechliche Geheimnisse barg. Und den Jungen, der einen Metalleimer hinter sich her schleifte und absichtlich einen empörenden Krach verursachte. Fèlix zitterte vor Angst, darum empörte ihn alles. Auf dem Tisch lag ein unerwarteter Gegenstand, ein Gegenstand, für den noch kein Platz vorgesehen war. Eine grüne Schachtel, die ihm Carolina geschenkt hatte, und darin ein gioiello dell’Africa . Sein Schicksal. Er hatte sich geschworen, noch vor dem Zwölf-Uhr-Läuten von Santa Maria habe er die Schachtel entweder geöffnet oder fortgeworfen. Oder sich umgebracht. Eines von den dreien.
    Denn einerseits konnte man sein Leben ganz dem Studium weihen, sich in der faszinierenden Welt der Paläographie, im Universum antiker Manuskripte seinen Weg suchen, Sprachen lernen, die kein Mensch mehr sprach, weil sie seit Jahrhunderten auf muffigen Papyri erstarrt waren, dem einzigen Fenster in das Gedächtnis der Menschheit, man konnte die mittelalterliche Paläographie von der antiken unterscheiden, sich freuen, weil die Welt so groß war, dass man sich, sobald Langeweile aufkam, in Sanskrit oder asiatische Sprachen vertiefen konnte, und sollte ich eines Tages einen Sohn haben, dann wünsche ich mir …
    Und wie komme ich jetzt darauf, dass ich eines Tages einen Sohn haben will?, fragte er sich wütend – nein, empört. Und dann sah er wieder zu der einsamen Schachtel hinüber, die auf dem aufgeräumten Tisch im Zimmer 54 lag. Fèlix Ardèvol fegte sich einen eingebildeten Fussel von der Soutane, fuhr sich mit dem Finger über den vom Kollar wundgescheuerten Hals und setzte sich an den Tisch. Noch drei Minuten bis zum Zwölf-Uhr-Läuten von Santa Maria. Er holte tief Luftund beschloss: Vorläufig würde er sich nicht das Leben nehmen. Er nahm die Schachtel in die Hände, ganz behutsam, wie ein Junge das gerade aus dem Baum geraubte Nest hält, um seiner Mutter die hellgrünen Eier oder die hilflosen Vogeljungen zu zeigen, ich ziehe sie groß, Mutter, mach dir keine Sorgen, ich füttere sie fleißig mit Ameisen. Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, o Herr. Irgendwie wusste er, dass seine nächsten Schritte einen unauslöschlichen Glanz in seiner Seele hinterlassen würden. Noch zwei Minuten. Mit zitternden Händen versuchte er, die rote Schleife zu lösen, doch der Knoten zog sich immer enger, und das nicht etwa, weil die arme Carolina ihn ungeschickt geknüpft hätte. Unwillig stand er auf. Noch anderthalb Minuten. Er ging zur Waschschüssel, holte sein Rasiermesser und klappte es hastig auf. Eine Minute und fünfzehn Sekunden. Und dann schnitt er kurz entschlossen das schönste rote Band durch, das er in seinem langen Leben je gesehen hatte, denn mit seinen fünfundzwanzig Jahren fühlte er sich alt und verbraucht und wünschte sich, dies alles würde nicht ihm widerfahren, sondern dem anderen Fèlix, der alles auf die leichte Schulter zu nehmen verstand … Eine Minute! Sein Mund war trocken, seine Hände waren feucht, und ein Schweißtropfen rann ihm über die Wange, und dabei war es doch heute gar nicht besonders … Noch zehn Sekunden, dann würden die Glocken von Santa Maria in der Via Lata zwölf Uhr Mittag läuten. Und während in Versailles ein paar Dilettanten verkündeten, der Krieg sei zu Ende, und bei der Unterzeichnung des Waffenstillstands vor Anstrengung die Zungenspitze herausstreckten, um nur ja alle Mechanismen in Gang zu setzen, die wenige Jahre später einen wunderbaren neuen Krieg ermöglichen sollten, noch blutiger und noch näher am Bösen, das Gott nie hätte zulassen dürfen, öffnete Fèlix Ardèvol i Guiteres die grüne Schachtel und schob zögernd die rosafarbene Watte auseinander. Und als der erste Glockenschlag erklang, Angelus Domini nuntiavit Mariae , brach er in Tränen aus.
    Es war nicht weiter schwierig, sich aus dem Wohnheim zu stehlen. Mit Morlin, Gradnik und zwei oder drei anderen hatte er das schon unzählige Male ungestraft getan. In weltlicher Kleidung standen ihnen in Rom viele Türen offen – oder jedenfalls andere als die, die sich ihnen
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