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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers
Autoren: Jaume Cabré
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nehmen, und es war das erste Mal in seinem Leben, dass er ein so drängendes, schmerzhaftes, unerbittliches und erschreckendes sexuelles Verlangen verspürte. Währenddessen sah Drago Gradnik ins Weite und dachte an den heiligen Anselm und andere, rationalere Wege zum Beweis der Existenz Gottes.
    »Ti fa male?«
    »Grazie, grazie mille, Padre«, sagte die süße Stimme mit den uferlosen Augen.
    »Da Gott uns nun einmal die Intelligenz gegeben hat, gehe ich davon aus, dass Glaube und Vernunft nicht unvereinbar sind, was meinst du, Ardevole?«
    »Come ti chiami (meine bezaubernde Nymphe)?«
    »Carolina, Padre. Grazie.«
    Carolina, was für ein wunderschöner Name. Wie könntest du anders heißen, Liebste.
    »Ti fa ancora male, Carolina (du unfassbar Schöne)?«, wiederholte er besorgt.
    »Vernunft. Durch Vernunft zum Glauben. Ist das Ketzerei? Sag schon, Ardevole.«
    Er musste sie auf der Bank zurücklassen, weil die heftig errötende Nymphe ihm erklärte, ihre Mutter werde bald vorbeikommen, und während die beiden Studenten ihren Bummel fortsetzten und Drago Gradnik in seinem nasalen Latein die Behauptung wagte, der heilige Bernat sei vielleicht doch nicht alles im Leben, und ich glaube, in seinem Vortrag fordert Teilhard de Chardin uns zum Denken auf, ertappte er sich dabei, wie er seine Hand ans Gesicht hob und versuchte, einen Dufthauch von der Haut der göttlichen Carolina zu erhaschen.
    »Verliebt? Ich?« Er sah Morlin an, der ihn spöttisch musterte.
    »Du weist alle Anzeichen dafür auf.«
    »Was verstehst du denn davon?«
    »Ich hab das schon hinter mir.«
    »Und wie bist du’s wieder losgeworden?«, fragte Ardèvol begierig.
    »Ich bin es gar nicht wieder losgeworden. Ich habe sie flachgelegt, bis die Liebe vorbei war, und das war’s.«
    »Du schockierst mich.«
    »So ist das Leben. Ich bin ein reuiger Sünder.«
    »Diese Liebe ist unendlich, sie vergeht nicht einfach. Ich könnte niemals …«
    »Meine Güte, dich hat’s aber erwischt, Felix Ardevole!«
    Fèlix antwortete nicht. Vor sich sah er dreißig Tauben, am Ostermontag auf der Piazza di Pietra. Die Heftigkeit seines Begehrens hatte ihn mitten durch den Taubendschungel getrieben, bis er vor Carolina stand, die ihm das Päckchen überreichte.
    »Il gioiello dell’Africa«, sagte die Nymphe.
    »Aber woher wussten Sie, dass ich …«
    »Jeden Tag kommen Sie hier vorbei. Jeden Tag.«
    In diesem Augenblick – Matthäus siebenundzwanzig, Vers einundfünfzig – zerriss der Vorhang des Tempels von obenan bis untenaus, und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen,die Gräber taten sich auf, und standen auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen.
    Das Geheimnis Gottes und des fleischgewordenen Wortes.
    Das Geheimnis der Jungfrau Maria, der Mutter Gottes.
    Das Geheimnis des christlichen Glaubens.
    Das Geheimnis der menschlichen unvollkommenen und der göttlichen ewigen Kirche.
    Das Geheimnis der Liebe einer jungen Frau und ihres Päckchens, das nun schon seit zwei Tagen auf dem Tisch in seinem Zimmer liegt und von dem ich am dritten Tag erst gewagt habe, das Einpackpapier zu öffnen. Es ist eine verschlossene Schachtel. Mein Gott. Ich stehe am Rand des Abgrunds.
    Er wartete bis Samstag. Die meisten Studenten waren auf ihren Zimmern. Ein paar waren ausgegangen oder saßen in den verschiedenen Bibliotheken Roms, wo sie empört nach Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Bösen suchten und warum Gott es zuließ, nach der empörenden Existenz des Teufels, der korrekten Lesart der Heiligen Schrift oder dem Zugegensein des Pneumas im Gregorianischen und Ambrosianischen Gesang. Fèlix Ardèvol war allein in seinem Zimmer, kein Buch lag auf dem Tisch, alles war an seinem Platz, weil ihn nichts so sehr empörte wie das heillose Durcheinander von Dingen, die nicht mehr zu gebrauchen waren, die nicht dort lagen, wo sie hingehörten, oder an denen der Blick hängen blieb, weil sie nicht richtig ausgestellt waren, oder … Er dachte bei sich, dass er wohl auf dem besten Wege war, Macken zu entwickeln. Ich vermute, das stimmt, es fing in jenen Jahren an; mein Vater war ein Ordnungsfanatiker, zumindest in materieller Hinsicht. Geistige Inkohärenz störte ihn, glaube ich, nicht besonders. Aber ein Buch, das auf dem Tisch herumlag, statt an seinem Platz im Regal zu stehen, oder ein vergessener Zettel auf der Heizung waren schlicht unentschuldbar und unverzeihlich. Nichts durfte störend ins Auge fallen, darauf waren wir alle geeicht, vor allem ich, der ich
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