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Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Autoren: Julie Klassen
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erfahren, dass du hier warst. Du … du hast das Dorf verlassen, um … eine Stelle anzunehmen. Ja, das ist gut.«
    »Aber wo? Ich weiß von keiner –«
    »Weit weg von hier.« Ihre Mutter kniff die Augen zusammen und dachte nach. »Geh zu meiner … geh nach St. Aldwyns. Östlich von Barnsley. Ich kenne eine der Schwestern, die dort die Schule leiten. Vielleicht haben sie eine Stellung für dich oder können dich wenigstens aufnehmen.«
    Ihre Mutter drehte sich um und eilte auf die andere Seite der Küche. Sie zuckte zusammen, als sie sich streckte und ein kleines Bündel hinter dem Rahmen eines Porträts hervorzog.
    »Ich kann dich nicht so zurücklassen, Mama – du bist verletzt.«
    Ihre Mutter kehrte zurück und packte sie am Arm. »Sollte er sterben, bedeutet das die Henkersschlinge für dich. Und das wäre viel tödlicher für mich als alles, was er mir antun könnte.«
    Sie schob das Bündel in Olivias Umhangtasche. »Nimm das und geh. Und versprich mir, nicht zurückzukehren. Ich werde zu dir kommen, wenn ich kann. Wenn es sicher ist.«
    Ein leises Stöhnen erklang aus dem anderen Zimmer und beide Frauen wurden von Schrecken ergriffen. »Geh jetzt. Lauf!«
    Und Olivia rannte.
    Die Szene verblasste vor Olivias innerem Auge und sie erschauderte. Sie zog das kleine Bündel hervor und untersuchte es im Morgenlicht. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein altes, gefaltetes Taschentuch, aber bei näherer Betrachtung entdeckte sie, dass es Nähte hatte und einen perlenbesetzten Verschluss.
    Warum hatte ihre Mutter es angefertigt? Hatte sie die Ereignisse des vergangenen Abends kommen sehen und geahnt, dass Olivia einmal fliehen müsste? Oder hatte sie ihre eigene Flucht vor einem Mann, dessen Gewaltausbrüche seit Monaten immer schlimmer wurden, vorbereitet?
    Olivia öffnete das verborgene Geldtäschchen und untersuchte seinen Inhalt. Vier Guineamünzen wurden von Fäden darin festgehalten, vermutlich, damit sie nicht aneinander klimpern und auf diese Weise ihr Versteck verraten konnten. Auch ein Brief lag dabei. Sie nahm ihn in die Hand, sah jedoch, dass er fest mit Wachs versiegelt war. Sie drehte ihn um und las die winzigen Buchstaben in der zarten Handschrift ihrer Mutter: Erst nach meinem Tod zu öffnen. Olivias Herz setzte einen Schlag lang aus. Was sollte das bedeuten? Sie dachte wieder an die eifersüchtigen Wutausbrüche ihres Vaters – die umgeworfenen Stühle, das zerbrochene Glas, die in die Wand geschlagenen Löcher. Trotzdem hatte Olivia nie geglaubt, dass er seiner eigenen Frau tatsächlich etwas antun würde. Hatte ihre Mutter sich vor genau dieser Bedrohung gefürchtet? Die Neugier nagte an ihr, aber sie legte den Brief schnell wieder an seinen Platz zurück.
    Dabei ertastete sie eine dünne Scheibe in den Falten des Stoffs, offenbar eine fünfte, kleinere Münze. Ein schmaler Riss im Futter verriet, an welcher Stelle man sie entnehmen konnte. Neugierig schob sie die Münze mit steifen Fingern zu diesem Loch. Als sie den Schilling herauszog, kam ein Stückchen Papier mit. Es war ein herausgerissenes Stück aus einer Zeitung, ungefähr eineinhalb auf acht Zentimeter groß und vom Alter vergilbt. Offenbar handelte es sich um den kurzen Teil einer Heiratsanzeige.
… der Earl von Brightwell die Vermählung seines Sohnes,
Lord Bradley, mit Miss Marian Estcourt
von Cirencester, Tochter von …
    Brightwell … Estcourt … die Namen verhallten dumpf in Olivias Kopf. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte ihre Mutter sie nie zuvor erwähnt. Warum hatte sie die Anzeige aufbewahrt?
    Olivias Magen knurrte und sie steckte den Zettel – und ihre Fragen – weg, um sich später einmal damit zu beschäftigen. Vorsichtig erhob sie sich und zupfte sich Laub und Tannennadeln aus den Haaren. Sie klopfte sich den Umhang und ihr Kleid ab und verzog das Gesicht, als sie den langen Riss in ihrem Oberteil bemerkte. Ihr Unterhemd und ein Träger ihres Mieders schauten hervor. Als sie an die Gefahren der vergangenen Nacht zurückdachte, wurde ihr bewusst, dass der Schaden wesentlich größer hätte sein können. Sie zog das herunterhängende Stück des Leibchens nach oben und verknotete es behelfsmäßig mit dem Streifen zerrissenen Stoffs an ihrer Schulter. Sie hoffte, dass sie nicht so furchtbar aussah, wie sie sich fühlte.
    Olivia versuchte, sich mit den Fingern durchs Haar zu kämmen und stellte fest, dass es ein verfilztes Durcheinander war, nachdem sich ihr ordentlicher Knoten schon lange aufgelöst hatte. Sie
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