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Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Autoren: Julie Klassen
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beiden jungen Menschen im Raum.
    In seinem Blick spiegelten sich Desinteresse und Geringschätzung, zumindest interpretierte ich ihn so.
    Der Gentleman grüßte die Stammgäste in geselligem Ton und verkündete, dass sie soeben einen Lord Soundso besucht hätten und sich nun auf der Rückreise Richtung London befänden, um seinen Sohn zu den geheiligten Hallen von Harrow zurückzubringen.
    Mit geröteten Wangen und plötzlich glänzenden Augen wandte sich mein Vater um und betrachtete den prahlerischen Herrn. »Ein Schüler in Harrow, ja?«
    »So ist es«, antwortete der Mann. »Wie sein Vater vor ihm.«
    »Er ist also ein tüchtiger, schlauer Junge, was?«, fragte mein Vater.
    Der Hauch eines Zweifels huschte über das Gesicht des Mannes. »Natürlich ist er das.«
    »Also kein Junge, der sich von einem Dorfmädchen wie diesem hier ausstechen lassen würde?« Mein Vater deutete mit einem Kopfnicken zu mir hin und mein Herz begann heftig zu schlagen. Eine übelerregende Angst legte sich auf meinen Magen.
    Der Gentleman warf einen kurzen Blick auf mich. »Wohl kaum.«
    Mein Vater grinste. »Lust, eine kleine Wette darauf abzuschließen?«
    Das war nichts Neues für mich. Im Lauf der Jahre hatten viele Stammgäste kleine Beträge darauf gesetzt, ob es mir gelingen würde, eine schwere Rechenaufgabe zu lösen. Selbst Männer, die die Wette verloren, klatschten Beifall und bestellten für meinen Vater Bier und für mich Ingwerlimonade.
    Der Gentleman verzog den Mund. »Eine Wette auf was?«
    »Dass das Mädchen Ihren Jungen in Mathematik schlagen kann? In Harrow wird doch sicher Mathematik unterrichtet, oder nicht?«
    »Natürlich, Mensch. Es ist die beste Schule des Landes. Die beste Schule der Welt.«
    »Da haben Sie sicher recht. Doch das Mädchen hier ist sehr klug. Ist das nicht so, Leute?« Mein Vater wandte sich Zustimmung heischend an die Stammgäste. »Sie geht auf Miss Cresswells Mädchenschule.«
    »Miss Cresswells Mädchenschule?« Der Sarkasmus des Gentlemans jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Du liebe Güte, Herbert, wir sollten uns wohl besser gleich geschlagen geben.«
    Irgendwie gelang es meinem Vater, sich zu beherrschen. Er zuckte sogar mit vorgetäuschter Lässigkeit die Schultern. »Wäre vielleicht ein unterhaltsamer Wettbewerb.«
    Der Gentleman musterte ihn, das Glas auf halbem Weg zum Mund. »Was schlagen Sie vor?«
    »Nichts Besonderes. Summen, Divisionen, Multiplikationen. Wer als Erster die richtige Lösung hat, gewinnt. Drei Versuche?«
    In diesem Moment sah ich es – den Jungen verließ der Ausdruck gespielter Gleichgültigkeit und Zuversicht vollständig. Darunter kam nackte Angst zum Vorschein. Er wirkte blass und krank.
    Der Gentleman blickte seinen Sohn an und leerte sein Glas. »Ich habe nichts für solchen Zeitvertreib übrig, guter Mann. Außerdem müssen wir uns wieder auf den Weg machen. Wir haben eine lange Reise vor uns.« Er stellte sein Glas auf die Theke und legte eine goldene Guineamünze daneben.
    »Ich kann es Ihnen nicht verübeln.« Mein Vater erhob sich und legte seine eigene Guinea auf die Bar. »Ist eine bittere Pille, von einem Mädchen geschlagen zu werden.«
    » Pa-pa …«, flüsterte ich. »Bitte nicht.«
    »Na, Herbert, das können wir doch nicht zulassen, oder?« Der Gentleman stupste seinen Sohn mit dem Gehstock in die Schulter. »Was meinst du, zu Ehren von Harrow und des Familiennamens?«
    Der stumme Schrecken, mit dem der Sohn seinen Vater ansah, verriet mir alles Übrige. Ich erkannte die Furcht, einen kritischen Elternteil zu enttäuschen, das Verlangen des Jungen nach ein wenig Anerkennung und seine entsetzliche Angst vor dem vorgeschlagenen Wettbewerb. Offenbar war Mathematik nicht seine Stärke. Vielleicht hatte er bisher verzweifelt versucht, diesen Umstand zu verbergen – und nun würde er jeden Moment auf sehr öffentliche und beschämende Weise ans Tageslicht kommen.
    »Großartig«, sagte mein Vater. »Zehn Guineas für den Gewinner?«
    »Pro Aufgabe? Großartig«, imitierte ihn der Mann hinterlistig. »Dreißig Guineas insgesamt. Sogar ich kann gut rechnen, sehen Sie.«
    Ich schluckte. Mein Vater hatte keine dreißig Guineas gemeint. Er besaß sie nicht einmal, was dem Gentleman wohl bewusst sein musste.
    Mein Vater verzog keine Miene. »In Ordnung. Wir fangen einfach an, ja? Wer zuerst das richtige Ergebnis hat, gewinnt.«
    Er sprach deutlich zwei dreistellige Zahlen aus. Ihre Summe stand sofort vor mir und kam über meine Lippen, bevor
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