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Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)

Titel: Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Autoren: Julie Klassen
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Haar umrandet war. In seinen wachsamen grünen Augen erkannte sie erneut die Angst, den eigenen Vater zu enttäuschen – die Angst, die sie in sich selbst wahrnahm und die sie vor vielen Jahren in der Krone und Krähe bei einem Jungen gespürt hatte. Würde, könnte dieser inzwischen erwachsen gewordene Junge es wagen, seinen Vater zu enttäuschen? Würde er die Wahrheit zugeben und sich dadurch den Zorn und die Ablehnung seines Vaters zuziehen, in hundertfach größerem Ausmaß, als es damals bei einem verlorenen Wettstreit gewesen wäre?
    Da blickte der junge Mann sie an. Er schaute richtig hin. Und ob er sie erkannt oder etwas in sich selbst festgestellt hatte, konnte Olivia nicht sagen, doch er richtete sich zu voller Höhe auf und in seinen Augen leuchtete eine seltsame Entschlossenheit auf wie bei einem Soldat, der sich in den sicheren Tod ergibt.
    »Niemand hat Geld von dir unterschlagen, Vater«, fing er an. »Sondern ich habe es weggenommen, um zu verhindern, dass du den letzten Schilling der Familie beim Spielen und für Frauen verschleuderst. Du hast Mutter und mir in den letzten Jahren nicht genug zum Leben gegeben, deshalb fühlte ich mich berechtigt, das wegzunehmen, was nötig war, um die Rechnungen zu zahlen und meiner Mutter die Behaglichkeit zu ermöglichen, die sie verdient hat. Enterb mich, wenn du willst – hier steht dein Anwalt bereit. Ich habe weise investiert. Von den erwirtschafteten Zinsen kann ich Mutter und mich jetzt versorgen – zwar nicht im großen Stil, aber jedenfalls anständig. Was ich von dir nicht sagen kann. Deine Angelegenheiten sind wirklich in einem traurigen Zustand und es ist kein versierter Buchhalter nötig, um das herauszufinden.« Er wandte sich an Olivia. »Obwohl eine versierte junge Frau nötig war, um aufzudecken, was ich getan habe. Und mir den Mut zu geben, dazu zu stehen.«
    »Wie …! Wie kannst du es wagen!«, tobte der ältere Mann. »Ich werde dich wirklich enterben. Dich aus der Familie ausschließen!«
    Herbert antwortete trocken: »Zwei Mal enterbt an einem einzigen Tag. Wie außergewöhnlich!«
    Der Verwalter räusperte sich. »Sir, wenn Sie mir gestatten. Die Summe, die Ihr Sohn investiert hat, ist das Einzige, was die Familie vor dem Schuldgefängnis bewahrt. Vielleicht ist etwas Milde angebracht?«
    »Mein Geld wird niemals in seine Diebeshände gelangen!«
    »Welches Geld, Vater?«, sagte Herbert. »Wir haben bereits festgestellt, dass deine Schulden größer sind als dein Vermögen, und die Investoren fallen ab wie Schuppen von einem stinkenden Fisch.«
    Sir Fulke blickte finster. »Und wessen Schuld ist das?«
    »Deine, Sir.«
    »Diese Gerüchte und jetzt die Anklage wegen Veruntreuung sind der Grund. Das ist dir zuzuschreiben. Es ist deine Schuld!«
    Herbert schaute seinen Vater gelassen an. »So sei es. Aber Mr Keene kommt frei.«
    »Warum denn das?«
    »Weil er unschuldig ist«, erwiderte Olivias Mutter. »Und weil der Rest dieser schmutzigen Affäre unser Geheimnis bleiben wird, wenn Sie alle Anklagen fallenlassen.«
    Der Wachtmeister widersprach. »Mrs Keene, wollen Sie ihn wirklich davonkommen lassen? Ich könnte –«
    »Ja, das will ich, Mr Smith.« Sie richtete einen kalten Blick auf Sir Fulke. »Es sei denn, er würde sich mir noch einmal nähern.«
    Herbert Fitzpatrick bot Olivia seinen Arm und geleitete sie aus dem Zimmer, während der Friedensrichter, Mrs Keene und Sir Fulke die Abmachung besiegelten. Edward, der Verwalter und der Anwalt fungierten als Zeugen.
    In der Halle zog Herbert eine einzelne Goldmünze aus der Westentasche und drückte sie in Olivias behandschuhte Hand. »Das hier gehört Ihnen, glaube ich, Miss Keene. Sie haben den Wettstreit vor vielen Jahren gewonnen, und Sie haben heute gewonnen.«
    »Ich denke, wir haben beide gewonnen«, erwiderte sie. »Danke, dass Sie die Wahrheit gesagt haben.«
    Er riss den Blick von ihrer Hand los und schaute bedauernd auf. »Hätten Sie mir erlaubt zu schweigen, wenn ich es nicht getan hätte?«
    Sie lächelte sanft und schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe lang genug geschwiegen.«

50
     
Es war die ganze Romantik des Kinderzimmers und die Poesie
des Schulzimmers.
Henry James, The Turn of the Screw
     
    Die Kutsche fuhr ans äußere Ende von Northleach zu dem Gefängnis aus marmoriertem grauem Stein und dem Gerichtsgebäude. Beides zusammen war als Besserungsanstalt bekannt. Das gebogene Tor wurde auf beiden Seiten von imposanten zweistöckigen Mauern flankiert.
    Edward
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