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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt
Autoren: M Mazzantini
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ihn
höflich, rechts heranzufahren, mich aussteigen zu lassen. Er brüllt etwas, in
seiner Sprache. Ich brülle auch.
    »Halt die Klappe, du
stinkst aus dem Mund!«
    Er schaut mich an, um
mich umzubringen, doch stattdessen hält er das Auto an.
    Ich steige aus, laufe
ein Stück auf dem Randstreifen der furchteinflößenden Straße außerhalb der
Stadt. Dreckige Lastwagen fahren haarscharf an mir vorbei.
    Er wartet, an die
offene Wagentür gelehnt, hinter einer Kurve auf mich, er raucht.
    »Steig ein, hören wir
auf damit.«
    Ich steige nicht ein.
Er fährt im Schritttempo weiter, mit offener Tür.
    »Das Auto hat mir ein
Freund geliehen, ich muss es heute Abend zurückbringen.«
    Er streckt einen Arm
heraus und hält mir ein Buch hin. Ich nehme es, ein Gedichtband von Andrić auf Serbokroatisch.
    »Poesie lässt sich
nicht übersetzen!«
    Idiot , denke ich. Doch ich bin müde, der
Schnee am Straßenrand ist hoch und schmutzig, er lässt meine Waden vor Kälte
erstarren. Und die Gesichter, die mich aus den Lastwagen anstarren, sind auch
nicht vertrauenerweckender als seines.
    Ich spreche nicht mit
ihm, während er fährt. Auch er ist still, nach einer Weile redet er bosnisch.
Er ist konzentriert, ergriffen, ich halte ihn für vollkommen übergeschnappt.
    Ich sage ihm, dass
ich kein Wort verstehe. Er sagt, ich solle auf den Klang achten, faselt, die
Poesie sei wie eine Partitur, sie habe den Klang des Unsichtbaren … der Nacht,
des Windes, der Sehnsucht.
    »Mach die Augen zu.«
    Das sollte ich nicht
tun, weil er mich dann womöglich erwürgt. Er hat die Heizung für mich
eingeschaltet, weil ich friere, er schwitzt in seiner Felljacke, fast tut er
mir leid. Ich schließe die Augen.
    Nach einer Weile höre
ich wirklich etwas, Erde, die in die Dämmerung fällt.
    »Wovon handelt das
Gedicht?«
    »Von einem
Totengräber, der einen Dichter begräbt und flucht und auf seinem Grab raucht.«
    »Und spuckt?«
    »Ja, er spuckt.«
    »Weißt du«, murmele
ich, »ein bisschen habe ich doch verstanden.«
    Er nickt, überlässt
mir das Buch, fängt an zu erklären.
    »Unsere Sprache liest
man genauso, wie man sie schreibt.«
    Er beobachtet mich,
während ich durch die Verse stolpere.
    »Voller sanfter
Laute, nur mit wenigen Vokalen … Die Wörter stecken sich gegenseitig an, sie
einigen sich mit ihren Nachbarn, ist eines weiblich, wird alles weiblich, wir
sind sehr charmant.«
    Er fuhr mit mir nach
Travnik, zum Geburtshaus von Andrić,
wir schlenderten an dessen Manuskripten und Fotografien entlang. Vor der alten
Wiege, in der der Schriftsteller seine ersten Träume geträumt hatte, blieben
wir stehen. Auf dem Rückweg im Auto nickte ich ein. Gojko weckte mich, indem er
mir auf die Augen blies.
    »Stinkt mein Atem
immer noch?«
    »Nein.«
    Nach all den
Kilometern auf den unbequemen Straßen waren wir hungrig. So fanden wir den Kiosk
mit den Ćevapčići, den besten meines Lebens, eingepackt in ihrer mit frischen Zwiebeln
gefüllten Brottasche. Die Frau lächelte und segnete unseren Hunger, unsere
Jugend.
    »Seid ihr verlobt?«
    »Nein, Freunde.«
    Was wohl aus ihr
geworden ist? Aus ihrer fetttriefenden Pfanne, aus ihrem Wollpullover … aus
ihrem Gesicht? Für mich ist diese Frau noch da, nach wie vor an der Ecke vor
dem Besistan, und sie lächelt uns zu, während sie unseren Hunger stillt und uns
ermuntert, zu essen und an das Gute zu glauben.
    Und selbst wenn eine
Granate sie weggerissen haben sollte, wenn ein Feuerstoß ihre Habseligkeiten
verstreut haben sollte, schwöre ich, dass sie lebt. Heute Abend lebt die
Imbissköchin, in unseren Blicken, die sich, aufgeweicht vom sumpfigen Roten aus
Montenegro, begegnen.
    Gojko hatte eine
Schwäche für den Dichter Mak Dizdar, für Bruce Springsteen und für die Levi’s
501, gern hätte er ein Paar schwarze gehabt, um damit in den Kneipen, in denen
er sich betrank und Witzbilder an die Wände malte, den Vogel abzuschießen. In
den folgenden Tagen nahm er mich bei der Hand und zeigte mir Sarajevo, wie er
es sah. Das alte öffentliche Bad, die Derwischhäuser, die Tabakfabrik in
Marijin Dvor, die kleine Magribija-Moschee, die mittelalterlichen Grabsteine …
Er kannte jeden Winkel, jede Geschichte. Er schleppte mich über kleine,
duftende Treppen in hölzerne Dachgeschosse, wo schmutzverkrustete Künstler
spannungsgeladene Leinwände kratzten; in Sevdah-Rock- und
New-Primitives-Kneipen unter Mädchen, die eng umschlungen miteinander tanzten,
barfuß neben einem Haufen
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