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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition)
Autoren: Eowyn Ivey
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Esther kamen noch vor Einbruch der Dunkelheit, und wie üblich redete Esther schon los, bevor sie zur Tür herein war, und hatte die Arme voll mit Einmachgläsern und Leckereien in Geschirrtüchern. Als sie die Äschen in Mehl wendeten und in einer gebutterten Gusseisenpfanne brieten, lief Jay zum Fenster.
    «Papa! Papa ist da!»
    Jay warf sich in Garretts Arme, bevor dieser Mantel und Mütze ablegen konnte.
    «Was hast du gesehen, Papa? Was hast du gesehen?»
    «Hm, lass mich nachdenken. Oh ja. Ich hab was gesehen … einen Vielfraß.»
    «Nimm den Jungen nicht auf den Arm», mahnte Esther, die eben eine brutzelnde Äsche umdrehte.
    «Tue ich gar nicht. Ich war ganz hoch oben, über der Baumgrenze, in dem kleinen Tal, wo ich vor langer Zeit einmal gewesen bin. Da gab es früher einen Vielfraß, aber jetzt schon seit Jahren nicht mehr.»
    «Aber du hast einen gesehen?», fragte der Junge.
    «Allerdings. Ich hatte das Pferd an einem Baum angebunden und bin über die Felsen hochgewandert, da guckt vom Kamm ein Vielfraß zu mir runter. Ich dachte, gleich springt er mir auf den Kopf. Seine Klauen waren sooo lang.» Garrett deutete mit Daumen und Zeigefinger eine knappe Handbreit an.
    «Hast du dich gefürchtet?»
    «Aber nein. Und er ist mir auch nicht auf den Kopf gesprungen. Hat mich nur aus seinen gelben Augen angeguckt. Dann hat er ganz, ganz langsam kehrtgemacht und ist davongetrottet, über den Kamm.»
    «Was hast du sonst noch gesehen, Papa? Was noch?»
    «Ein Vielfraß reicht anscheinend nicht», sagte Esther und gluckste.
    «Tja, sonst nicht allzu viel. Außer den Wolken da über den Bergen. Sieht nach Schnee aus.»
    Der Junge sah zum Fenster und, enttäuscht, wieder zu seinem Vater hin. «Es schneit doch gar nicht.»
    «Keine Sorge. Jede Wette, dass es heute Nacht losgeht», sagte Garrett.
    Das ganze Abendessen hindurch hielt es den Jungen kaum auf seinem Stuhl, obwohl er reichlich Lob für den wohlschmeckenden Fisch erntete, bei dessen Fang er mitgeholfen hatte.
    «Gib Ruhe, Jay», sagte Esther. «Du weißt doch, wenn man den Himmel nicht aus den Augen lässt, rückt er kein Flöckchen Schnee raus. Setz dich zu Großpapa George. Vielleicht gibt er dir was von seinem Kuchen ab.»
    George blickte den Jungen mit gespielt finsterer Miene an, packte ihn dann und kitzelte ihn durch.
    «Himmel noch mal, passt auf das Geschirr auf», sagte Esther. «Ihr schmeißt noch den Tisch um.»
    Als die Nachspeise verzehrt war, sammelten George und Esther ihre Siebensachen ein und machten Anstalten aufzubrechen, was den Jungen tief betrübte. Er erhob stets Einwände, wenn solche Zusammenkünfte endeten, und schlug einmal vor, sie sollten doch alle zusammen bei Jack und Mabel im Blockhaus wohnen, damit niemand je fortgehen müsse.
    Mabel half Esther in ihren Mantel, Jack schüttelte George die Hand, und Garrett sagte, er und Jay wollten die Pferde holen und vor den Wagen spannen.
    «Setz deine Mütze auf, Klein-Jack», rief Mabel ihm nach, doch der Junge war bereits zur Tür hinaus.
    Jack stellte das Geschirr auf dem Tisch zusammen und hörte den Wagen knarrend und quietschend auf dem Lehmpfad in Gang kommen. Und dann hörte er noch etwas anderes – Geschrei und Gelächter. Schon stand Mabel am Küchenfenster.
    Jack spähte über ihre Schulter. Zunächst sah er nur ihre Spiegelbilder in der Scheibe, doch dann entdeckte er hinter ihren beiden runzligen Gesichtern die Gestalten in der Dunkelheit.
    Garrett stand mit einer Laterne in der Hand beim Stall, vor sich den Jungen, der Freudensprünge vollführte und die Arme in die Luft reckte. Selbst im Blockhaus war sein Juchzen und Jubeln zu hören. Der Hund tanzte und bellte aufgeregt neben ihm, vollführte dann ebenfalls einen kleinen Hüpfer und rannte wie wild im Kreis.
    Nachdem Jacks Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, erkannte er das Weiß, das den Boden bedeckte und, im Licht von Garretts Laterne, die herabtrudelnden Schneeflocken.
    Er nahm Mabels Hand, und als sie sich zu ihm umwandte, sah er die Freude und den Kummer eines ganzen Lebens in ihren Augen.
    «Es schneit», sagte sie.

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    Danksagung
    Zuallererst danke ich dir, Sam, der du immer an mich geglaubt hast. Meiner Tochter Grace, die mich mit ihrem unglaublichen Einfallsreichtum angesteckt hat. Meiner Mutter Julie LeMay, einer Dichterin, die mir die Magie von Wörtern und die Kraft des Einfühlungsvermögens nahebrachte. Meinem Vater John LeMay, der mich lehrte, wilde Landschaft, wilde Tiere
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