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Das Schlitzohr

Das Schlitzohr

Titel: Das Schlitzohr
Autoren: Albert Schöchle
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machen.
    Meine Abneigung gegen gute Kleidung
hatte ihre Ursache in den Ermahnungen »paß auf deine Hose auf«, »mach dich
nicht so schmutzig«, »oh Gott, wie sieht das neue Hemd aus« und ähnlichen
reizvollen Bemerkungen. Ich achtete zwar nicht auf meine Kleidung, aber ich
konnte mit größter Genauigkeit sagen, wo die tiefsten Pfützen auf meinem
Schulweg lagen oder an wie vielen Hunden man auf diesem Schulweg vorbeikam und
welchen Charakter diese Hunde hatten. Wie mir überhaupt der Schulweg als das
Schönste an der ganzen Schule erschien. Das war auch der Grund dafür, daß ich
immer sowohl zu spät in die Schule als auch zu spät nach Hause kam. So ein
Schulweg war ja auch keine so einfache Sache wie etwa eine Unterrichtsstunde.
Im Unterricht mußte man sich nur hinsetzen und ein interessiertes Gesicht
schneiden, dann konnte man ruhig etwas anderes denken oder treiben, man mußte
allerdings wissen, ob der Lehrer die fragte, die sich melden oder die sich nicht
melden. Man mußte also genau kalkulieren, ob man beim Abfragen den Finger heben
mußte, wenn man etwas wußte oder wenn man nichts wußte. Sollte man aber doch
einmal mit dieser Methode Pech haben, so war es wichtig, daß man seinen
Nebensitzer so weit erzogen hatte, daß er einem aus der Patsche half. Deshalb
empfahl es sich, als Nebensitzer einen guten, aber körperlich etwas
schwächlichen Schüler zu wählen, der in den Pausen eines gewissen Schutzes
bedurfte. So war also eine Unterrichtsstunde eigentlich eine reine
Routinesache. Ganz anders dagegen mein Schulweg. Ich ging in die evangelische
Volksschule in Kempten. Diese lag in der Altstadt, auf dem Gebiet der
überwiegend evangelischen ehemaligen freien Reichsstadt, während mein
Elternhaus in der ehemaligen katholischen Stiftsstadt lag. Nun aber bestand
seit der Reformation eine tiefe Kluft zwischen den Bewohnern der Stiftsstadt
und denen der freien Reichsstadt. Sie war zwar seit über hundert Jahren durch
die Vereinigung beider Städte unter bayerischer Hoheit eingeebnet worden, aber
leider nur bei den Erwachsenen. Die Kinder dagegen wurden an der Bewältigung
dieser Vergangenheit immer noch durch die Konfessionsschulen gehindert. Was
Wunder, wenn es jeder kräftig gebaute junge Christ als ein Gott wohlgefälliges Werk
ansah, jeden — möglichst etwas schwächer gebauten — Andersgläubigen zu
verdreschen, wenn er seinen Weg kreuzte. Da nun die katholische Volksschule
nahe bei meinem Elternhaus lag und die Schulen gleichzeitig mit dem Unterricht
anfingen, war mein Schulweg ziemlich gefährlich. Ich mußte nämlich mit einer
größeren Zahl Gegner rechnen, und zwar wurde die Sache um so brenzliger, je
später ich den Schulweg antrat. Es galt also, bei Verspätungen eine Route zu
wählen, auf der ich nur mit vereinzelten Schülern dieser Schule zusammentraf.
Denn jeden Tag von einer überlegenen Gruppe angegriffen und verprügelt zu
werden, war nicht nur schmerzlich, sondern hatte auch zur Folge, daß man in
einem ziemlich desolaten Zustand in der Schule ankam und dafür eine Strafarbeit
erhielt. Außerdem trug mir die zerrissene Kleidung eine elterliche Abreibung
ein.
    Weiter mußte man entscheiden, welches
Vergnügen man sich auf dem Schulweg gönnen wollte. Ging man über den Stadtpark,
so fand man bestimmt interessante Raupen, Käfer, Spinnen oder Würmer. Auch kam
man auf dieser Route bei dem Bernhardiner Barry vorbei. Ging man über die
Gerberstraße, so konnte man in Biechtelers Haus im Keller ein Mühlrad sehen.
Ein Stück weiter war ein Rehpinscher, der furchtbar bellte wenn man ans Fenster
klopfte, was seine Besitzerin, eine schweratmige alte Jungfer, zu besonders
reizvollen Zornesäußerungen veranlaßte. Bei Regen freilich mußte man unbedingt
über die Klostersteige gehen. Da schoß das Wasser einfach großartig herunter,
und man konnte eine erstklassige Überschwemmung inszenieren, wenn man den
Schieber des Gully verschloß. Am Freitag mußte man auf alle Fälle über die Sutt
gehen, da stand vor einem Hause eine Tafel mit der Aufschrift »frische
Seefische«. Diese Tafel war völlig überflüssig, denn man roch diese angeblich
frischen Fische schon von weitem. Es gehörte zur Tradition unserer Schule, daß
wir möglichst zahlreich durch diese Gassen gingen und mit zugehaltener Nase ein
infernalisches Geschrei ausstießen. So war vor dem Ersten Weltkrieg ein Schulweg
eine hochinteressante und unterhaltende Angelegenheit, ohne den Streß, der
heute damit verbunden ist. In der Schule
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