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Das Schicksal in Person

Das Schicksal in Person

Titel: Das Schicksal in Person
Autoren: Agatha Christie
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nachdenklichen Ton.
    »Sie versäumen so viel«, meinte Miss Marple. »So viele wichtige Dinge.«
    »Aber sie können auch sehr vielen Dingen entkommen«, entgegnete Miss Temple.
    »Jetzt, da ich so alt bin«, sagte Miss Marple, »glaube ich, dass man viel versäumt, wenn man jung stirbt.«
    »Und ich«, sagte Elizabeth Temple, »glaube, dass jede Lebensstufe ein in sich selbst vollkommener Abschnitt ist. Das hat mich das Zusammenleben mit jungen Menschen gelehrt.«
    »Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Das Leben ist immer vollkommen, ganz egal, wie lange es dauert. Aber glauben Sie nicht, dass ein Leben auch unvollkommen sein kann, wenn es plötzlich abgeschnitten wird?«
    »Ja, das stimmt.«
    Miss Marple schaute auf die Blumen, die neben der Bank wuchsen. »Wie schön diese Pfingstrosen sind. So stolz und doch so zerbrechlich.«
    Elizabeth Temple sah ihre Nachbarin an. »Warum haben Sie diese Reise mitgemacht, wegen der Gärten oder wegen der alten Bauten?«
    »Ich glaube, vor allem wegen der Bauten. Natürlich sehe ich mir die Gärten am liebsten an, aber die Schlösser – das ist für mich ein ganz neues Erlebnis. Alles, was damit zusammenhängt, die Geschichte, die schönen Möbel, die Bilder.« Dann fügte sie hinzu: »Ein guter Freund hat mir diese Reise geschenkt. Ich bin ihm dafür sehr dankbar. Ich habe noch nicht sehr viele große und berühmte Schlösser gesehen.«
    »Ein netter Einfall«, sagte Miss Temple.
    »Machen Sie solche Reisen öfters mit?«, fragte nun Miss Marple.
    »Nein. Und dies ist für mich auch keine gewöhnliche Besichtigungsfahrt.«
    Miss Marple schaute sie fragend an, doch sie scheute sich, etwas zu sagen. Miss Temple lächelte.
    »Sie können sich nicht denken, warum ich hier bin, warum ich diese Reise mitmache? Nun, raten Sie doch mal!«
    »Aber nein, das kann ich doch nicht tun.«
    »Doch, doch, nur zu«, drängte Elizabeth Temple. »Es würde mich interessieren, wirklich. Raten Sie!«
    Miss Marple dachte eine Weile nach. Sie schaute Elizabeth Temple prüfend an, dann meinte sie:
    »Was ich jetzt sage, hat nichts mit dem zu tun, was ich über Sie weiß oder was man mir über Sie erzählt hat. Ich weiß, dass Sie eine bekannte Persönlichkeit sind und Ihre Schule sehr berühmt ist. Doch der Eindruck, den ich von Ihnen habe, hat nichts damit zu tun. Sie sehen so aus, als seien Sie eine Pilgerin, als wären Sie auf einer Art Wallfahrt.«
    Elizabeth Temple schwieg eine Weile, ehe sie antwortete: »Ja, das ist ein guter Ausdruck. Ich bin wirklich auf einer Pilgerfahrt.«
    Auch Miss Marple ließ eine Weile vergehen, ehe sie sagte: »Der Freund, der mir diese Reise ermöglicht hat, ist jetzt tot. Es war ein Mr Rafiel, ein sehr reicher Mann. Kannten Sie ihn vielleicht?«
    »Jason Rafiel? Ja, dem Namen nach natürlich. Ich habe ihn aber nie persönlich kennen gelernt. Er hat mal für ein pädagogisches Projekt, an dem ich interessiert war, etwas gestiftet. Dafür war ich sehr dankbar. Er war, wie Sie sagen, ein sehr reicher Mann. Ich sah vor einigen Wochen eine Todesanzeige in der Zeitung. So, dann war er also ein alter Freund von Ihnen?«
    »Nein, das nicht. Ich habe ihn erst vor etwa einem Jahr kennen gelernt, in Westindien. Ich weiß auch nicht viel über ihn, über sein Leben, seine Familie oder seine Freunde. Er war ein großer Finanzmann. Als Mensch sehr verschlossen. Kannten Sie seine Familie oder irgendjemand…?« Miss Marple machte eine Pause und meinte dann: »Ich habe mir natürlich oft Gedanken darüber gemacht, aber man will ja nicht fragen und neugierig sein.«
    Elizabeth Temple schwieg eine Weile, dann sagte sie:
    »Ich kannte einmal ein junges Mädchen, sie war meine Schülerin in Fallowfield, meiner Schule. Sie war keine direkte Verwandte von Mr Rafiel, aber sie war mit Mr Rafiels Sohn verlobt.«
    »Und sie hat ihn nicht geheiratet?«, fragte Miss Marple.
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Hoffentlich, weil sie vernünftig genug war. Er gehörte nicht zu der Sorte junger Männer, die man sich für jemand wünscht, den man gern hat. Sie war ein liebes und reizendes Mädchen. Ich weiß nicht genau, warum sie ihn nicht geheiratet hat. Man hat es mir nie erzählt.« Sie seufzte und sagte: »Jedenfalls starb sie dann…!«
    Miss Marple schaute sie erschrocken an.
    »Warum ist sie gestorben?«
    Elizabeth Temple starrte schweigend auf die Pfingstrosen. Dann sagte sie nur ein Wort, aber der Klang ihrer Stimme war erschreckend: »Liebe.«
    Miss Marple fragte aufhorchend:
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