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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Daniel Wolf
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zurückkam.
    Vorsichtig zog Michel den primitiven hölzernen Riegel zurück und öffnete die Tür.
    Der Schuppen enthielt zwei Fässer, eine große Kiste und mehrere Säcke mit Getreide und Erbsen. Michel fasste sich ein Herz und schlüpfte hinein.
    Es dauerte nicht lange, bis er die eingelegten Früchte fand: Pierre verwahrte sie in einer zweiten Kiste, die hinter den Fässern stand. Michel öffnete eines der irdenen Gefäße. Beim Anblick der Honigpflaumen lief ihm das Wasser im Mund zusammen, und er konnte nicht widerstehen, eine Frucht herauszufischen und sie sich in den Mund zu stecken.
    Voller Wonne schloss er die Augen. Es musste Monate her sein, dass er das letzte Mal etwas derart Köstliches gegessen hatte. Einen Moment lang erwog er, so viele Krüge mitzunehmen, wie er tragen konnte. Doch dann regte sich sein Gewissen. Er wollte Pierre nicht ernstlich schaden. Ein Krug genügte.
    Er presste den Deckel auf das Gefäß, schloss die Schuppentür und huschte zu Jean zurück.
    »Zeig her!«, sagte sein Bruder aufgeregt und griff nach dem Krug.
    »Wir essen sie, wenn wir im Dorf sind.«
    »Du hast schon eine gegessen – ich hab’s gesehen. Lass mich auch!« Jean versuchte, ihm den Krug wegzunehmen, und sie begannen zu rangeln. »Immer willst du mir alles verbieten!«
    »Wenn es dir nicht passt, hol dir einen eigenen Krug. Aber du traust dich ja nicht …«
    Sie erstarrten, als Geräusche ertönten.
    Stimmen. Knackende Zweige.
    Knirschende Schritte.
    »Kopf runter!«, stieß Michel hervor.
    Sie duckten sich hinter dem Holzstapel und beobachteten den Waldrand. Zwischen den Bäumen erschien Pierre und stolperte den Pfad entlang. Der Köhler sah schrecklich aus: das verbrannte Gesicht zerschlagen, das linke Auge geschwollen, der Kittel blutverschmiert. Außerdem hatte ihm irgendjemand mit einem Lederriemen die Hände gefesselt.
    Ihm folgten zwei Männer, die ihm hin und wieder einen groben Stoß versetzten. Anhand ihrer Eisenhelme und Waffenröcke erkannte Michel sie als Kriegsknechte Guiscard de Thessys.
    Er biss sich auf die Unterlippe. Es fiel ihm nicht schwer zu erraten, was geschehen war: Man hatte Pierre beim Wildern erwischt. Im Dorf fürchtete man schon lange, dass es eines Tages so kommen würde. Es war ein offenes Geheimnis unter den Bewohnern Fleurys, dass Pierre gelegentlich mit seiner Schleuder durch das Unterholz streifte, um heimlich einen Hasen, ein Rebhuhn oder gar einen Frischling zu erlegen. Dabei war es den Leibeigenen bei Strafe verboten, in den Wäldern der Allmende zu jagen. Allein der Herzog und seine Vasallen hatten das Recht dazu.
    Zu guter Letzt tauchte ein Reiter auf. Michels Magen zog sich zusammen. Guiscard de Thessy saß mit gekrümmtem Rücken auf seinem Schlachtross, in einen Wollumhang gehüllt, der ihn vor der beißenden Kälte schützte. Der grobe Stoff fiel über das Schwert, das er am Gürtel trug, und wegen der Kapuze sah man von seinem Antlitz lediglich den wuchernden, von grauen Strähnen durchsetzten Bart. Er war ein Ritter des Herzogs und der Herr von Fleury – und auf der ganzen Welt gab es nichts und niemanden, vor dem Michel mehr Angst hatte.
    Er betrachtete den Krug in seiner Hand. Nicht auszudenken, was Guiscard tun würde, wenn er sie mit den gestohlenen Früchten erwischte. Hastig vergrub er das Gefäß im Schnee. Jean bekam davon nichts mit. Mit aufgerissenen Augen beobachtete er die beiden Kriegsknechte und Guiscard, die sich mit ihrem Gefangenen der Hütte näherten.
    »Wir müssen sofort hier weg«, flüsterte Michel ihm zu.
    Bevor die Männer sie sehen konnten, huschten sie über die Wiese und am Kohlenmeiler vorbei und schlüpften durchs Gebüsch, bis sie zu dem Weg kamen, der am Waldrand entlangführte. Dort begannen sie zu rennen, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Nur einmal warf Michel einen Blick über die Schulter. Guiscard und seine Kriegsknechte schienen sie nicht zu verfolgen.
    Schließlich erreichten sie die Kirche und kurz darauf Fleury, ihr Heimatdorf, das in einer Senke zwischen den Hügeln lag. Etwa die Hälfte der rund dreißig Bauernhäuser umstanden einen weitläufigen Platz, auf dem die Dörfler ihrer Arbeit nachgingen. Julien, der Schmied, zertrümmerte mit einer Stange das Eis im Ziehbrunnen. Am Backofen des Dorfes buken mehrere Frauen Brot und tauschten dabei den neuesten Klatsch aus.
    Michel und Jean hasteten zu ihrer Hütte, vor der ihr Vater, ein blonder, breitschultriger Mann, gerade Holz hackte. Sein Atem dampfte in der
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