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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Daniel Wolf
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niemals etwas abgeben – darauf konnten sie warten, bis sie schwarz wurden. Wenn sie etwas von den Früchten haben wollten, mussten sie in den Schuppen einbrechen und sich welche holen.
    Die Sache war nicht ganz ungefährlich. Der Köhler hasste Kinder. Als sie sich das letzte Mal bei seiner Hütte herumgetrieben hatten, hatte er sie mit Kastanien beworfen und schimpfend zum Teufel gejagt. Wenn er sie in seinem Schuppen erwischte, würde er sie gewiss grün und blau schlagen, wie Robert, den Sohn des Schmieds, der im Sommer Pierres Katze in eine Jauchegrube geworfen hatte.
    Einen Steinwurf von der Köhlerkate entfernt bemerkte Michel, dass sein Bruder nicht mehr hinter ihm war. Er wandte sich um und entdeckte ihn zwischen den Büschen am Fuß der Böschung, wo er in seinem Beutel herumwühlte.
    »Jean!«, rief er leise.
    »Ich komm ja schon.« Hastig kämpfte sich sein Bruder durch den Schnee die Böschung hinauf. Er war erst sechs Jahre alt, zwei Jahre jünger als Michel, aber nicht viel kleiner und schwächer. Zu Michels großem Verdruss schlug Jean nach ihrem stämmigen und hochgewachsenen Vater, während er selbst unverkennbar nach ihrer Mutter kam, die schlank und zierlich gewesen war.
    »Was hast du da?«, fragte er, als er sah, dass Jean etwas in der Hand hielt.
    »Eine Maulwurfspfote. Odo hat sie mir gegeben. Es ist ein Amlu… ein Alu…«
    »Ein Amulett?«
    »Ich soll es immer bei mir tragen, wenn ich in den Wald gehe«, erklärte Jean. »Damit die Faune mir nichts tun.«
    »Vater sagt, es gibt keine Faune.«
    »Natürlich gibt es sie. Man kann sie nur nicht sehen. Sie verstecken sich vor den Menschen.«
    »Leise!«, zischte Michel. »Willst du, dass Pierre uns hört?«
    Sie schlichen durch das Gebüsch. Michel wünschte, Jean hätte nicht von Faunen angefangen, denn nun fühlte er sich aus dem Unterholz von unsichtbaren Augen beobachtet.
    Als Pierres Kate in Sicht kam, duckten sie sich.
    Die kleine Hütte hatte, wie die meisten Gebäude in Fleury, Wände aus aufgeschichteten Feldsteinen und ein Dach aus Stroh. Aus dem Kamin kräuselte sich eine dünne Rauchfahne, ebenso aus dem Schacht des Kohlenmeilers, der wie ein altertümlicher Grabhügel aus der Wiese vor dem Gemüsegarten wuchs. Neben dem Meiler stand der windschiefe Schuppen, in dem Pierre die Honigfrüchte aufbewahrte.
    Kein Geräusch störte die Stille des Waldes.
    »Pierre ist nicht da«, flüsterte Michel.
    »Vielleicht ist er drinnen.«
    »Glaub ich nicht. Morgens geht er immer Holz sammeln. Er kommt frühestens heute Mittag zurück.«
    Michel pirschte sich an die Hütte heran, gefolgt von Jean, der seine Maulwurfspfote fest umklammert hielt. Sie versteckten sich hinter einem Stapel Feuerholz und beobachteten die Kate aus der Nähe. Im Schnee vor der Tür waren frische Spuren zu sehen, die in den Wald führten.
    »Siehst du? Er ist fortgegangen.«
    »Da!«, keuchte Jean, als ein Schatten hinter dem Schuppen hervorhuschte.
    »Das ist nur die Katze«, sagte Michel.
    Das Tier blickte argwöhnisch zum Feuerholzstapel, bevor es durch einen Spalt im Mauerwerk schlüpfte.
    Jeans Stimme zitterte leicht. »Lass uns zum Dorf zurückgehen.«
    »Wir gehen erst, wenn wir die Früchte haben«, sagte Michel entschlossen, obwohl er sich in Wahrheit genauso sehr fürchtete wie sein Bruder. Pierre mit seiner verbrannten Wange und seinem stinkenden Kittel aus Fell- und Lederstücken jagte ihm eine Heidenangst ein, und ihm fiel wieder ein, dass Odo einmal gesagt hatte, Pierres Großvater stamme von Waldschraten ab. Er hatte diese Geschichte immer für Unsinn gehalten, aber jetzt war er sich plötzlich nicht mehr so sicher. Pierre hatte tatsächlich einiges von einem Waldschrat an sich, den krummen Rücken etwa oder die prankenhaften Hände … und sagte man diesen Geschöpfen nicht nach, sie fräßen Kinder?
    Michel unterdrückte ein Schaudern. Allein der Gedanke an die honigsüßen Pflaumen und Birnen hielt ihn davon ab aufzugeben und zu fliehen.
    »Du wartest hier«, sagte er zu Jean und rannte über die Wiese. Als er die Schuppentür erreichte, wurde ihm schlagartig klar, dass ihr Plan eine entscheidende Schwäche aufwies: ihre Spuren. Wegen des Schnees würde Pierre sofort wissen, dass jemand während seiner Abwesenheit in den Schuppen eingedrungen war, und natürlich würde er die Kinder Fleurys verdächtigen. Aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Vielleicht hatten sie Glück, und es fing wieder an zu schneien, bevor der Köhler
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