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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Daniel Wolf
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machten; untereinander tauschten sie die Dinge, die sie brauchten. Wieso besaß sein Vater auf einmal einen ganzen Beutel davon?
    Julien hat es ihm für das Schwein gegeben, kam es ihm in den Sinn, als sein Vater die Münzen auf dem Tisch stapelte und zählte. Aber warum hat er nichts Nützlicheres dafür verlangt, eine neue Säge oder wenigstens eine Schachtel voller Nägel? Was sollen wir mit so viel Geld?
    Während er noch darüber rätselte, was das bedeuten mochte, wurden ihm die Lider schwer. Kurz darauf schlief er ein und träumte von zwei Kaninchen, die tot im Schnee lagen, von Guiscards kalten Augen, von Pierre, dessen Blut zu Boden troff.
    »Wach auf, Michel.« Eine Hand rüttelte ihn an der Schulter.
    Verschlafen setzte er sich auf. Es war stockfinstere Nacht. Neben dem Schlaflager stand sein Vater, ein schwarzer Umriss vor der orangefarbenen Glut des Herdes.
    »Weck Jean und Vivienne, und zieht euch an«, flüsterte er. »Wir müssen fort.«
    »Fort? Wieso?
    »Tut, was ich sage. Aber seid leise.«
    Michel gehorchte und weckte seine Geschwister. Vivienne kam sofort zu sich; Jean hingegen blickte ihn benommen und verwirrt an. Sein hellbraunes Haar stand in alle Richtungen ab.
    »Vater will, dass wir uns anziehen«, raunte Michel ihm zu und stieg aus dem Bett. Flackernder Flammenschein erfüllte die Hütte, als sein Vater einen Kienspan an der Glut entzündete und in eine Tonschale auf dem Tisch legte. Er schien schon eine Weile wach zu sein, denn er war vollständig angezogen – oder er hatte gar nicht erst geschlafen. Rasch packte er ihre Habseligkeiten und sämtliche Vorräte in den Huckelkorb, den er normalerweise zum Reisigsammeln verwendete.
    Michel holte seinen Leibrock, die wollenen Beinlinge, die Bruche und den Überwurf aus der Kiste am Fußende des Schlaflagers und schlüpfte hinein. Während er seine Filzschuhe anzog, setzte sich endlich auch Jean in Bewegung.
    »Was ist los?«, murmelte er.
    Ihr Vater gab keine Antwort. »Hilf deiner Schwester«, wies er Michel an.
    Michel zog Vivienne an, die sich ausnahmsweise einmal nicht dagegen sträubte. Unterdessen griff sein Vater nach oben in die Dachbalken und holte einen Lederbeutel hervor. Es war derselbe Beutel, den Julien mittags bei sich gehabt hatte. Als sein Vater ihn in den Tragekorb steckte, verrutschte das Leder, und der Griff eines Schwertes kam zum Vorschein. Michel wusste, dass es den Leibeigenen verboten war, Waffen zu tragen. Der Herr würde seinen Vater hart bestrafen, wenn er ihn mit dem Schwert erwischte, ihn vielleicht gar halbtot prügeln wie Pierre. Was ging hier vor?
    Sein Vater verschloss hastig den Beutel. »Seid ihr fertig?«
    Michel schaute zu Jean, der gerade in seine Schuhe schlüpfte, und nickte.
    »Gut. Zieht eure Umhänge an. Draußen ist es bitterkalt.«
    »Wohin gehen wir?«
    »Wir verlassen Fleury.«
    »Für immer?«
    »Ja.« Sein Vater schulterte den Tragekorb. »Wir laufen zum Waldrand. Ihr müsst so leise sein, dass niemand uns hören kann. Schafft ihr das?«
    Michel und sein Bruder nickten. Ihr Vater blies den Kienspan aus und öffnete die Tür; eisige Nachtluft strömte in die Hütte. Michel ergriff Viviennes Hand, und lautlos huschte die Familie über den Dorfplatz. Michel hatte sich gefragt, ob ein Unglück Fleury heimgesucht hatte und sie deshalb fliehen mussten, ein Feuer vielleicht oder ein Überfall durch Räuber, doch im Dorf herrschte vollkommene Stille. Alles schien in bester Ordnung zu sein.
    Hatte sein Vater ein Verbrechen begangen? Flohen sie vor Guiscards Kriegsknechten, die ihn bestrafen wollten? Tausend Fragen tobten durch Michels Kopf, aber er hielt sein Versprechen und gab keinen Laut von sich.
    Als sie zur Kirche kamen, trat ihr Vater an die Friedhofsmauer und starrte in die Dunkelheit, blickte zu den beiden Ulmen, unter denen ihre Mutter begraben lag. Immer wenn es die Arbeit zuließ, kamen sie hier herauf, versammelten sich um die schlichte Ruhestätte und beteten für ihre Seele. Erst vor zwei Tagen hatten sie das Grab besucht – zum letzten Mal, wie Michel nun klar wurde.
    Er erinnerte sich so gut an seine Mutter, als wäre sie gestern noch bei ihnen gewesen. Er sah sie vor sich, wie sie das Herdfeuer schürte oder Vivienne stillte, wie sie Jean und ihm Geschichten erzählte oder mit ihnen über die Wiese tollte. Sie war eine schöne Frau gewesen, dunkelblond und zerbrechlich und immerzu fröhlich, selbst dann noch, als das tückische Fieber bereits angefangen hatte, ihren Leib auszuzehren.
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