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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament
Autoren: Tim Willocks
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waren.
    Als der Sommer die Alpenhöhen küßte und alle außer den höchsten Schneefeldern schmolzen, packte Tannhäuser seine Sachen, sattelte Buraq und sagte Lebewohl. Obwohl unzählige Tränen vergossen wurden, zerriß ihm dieser Abschied nicht das Herz wie so viele andere zuvor, denn es war nur ein Abschied der Körper und nicht der Seelen. Tannhäuser machte sich auf den Weg über den Kontinent, durch die Reiche vieler verschiedener Könige, und als die Tage des Sommers schon wieder kürzer wurden, betrat er wieder einmal das Land der Franken.So ritt an einem kupfergoldenen Herbsttag der Chevalier Mattias Tannhäuser von der Stadt Bordeaux aus über die Straße nach Perpignan in Aquitanien ein. Pferd und Reiter hatten miteinander in dem inzwischen vergangenen Jahr an die tausend Meilen zurückgelegt. So lang hatte es gedauert, bis die Wunden in seiner Seele geheilt waren. Buraq war in bester Verfassung und trabte die sonnendurchfluteten Meilen mit großer Freude. Tannhäuser hatte großen Gefallen an der Stadt gefunden. Bordeaux war ein wunderbarer Seehafen, ein Ausgangspunkt, wie er sich keinen besseren wünschen konnte, und eine Stadt, die sich dem Handel und nicht dem Krieg verschrieben hatte. Er würde sein Französisch verbessern müssen, eine Aufgabe, auf die er sich nicht sonderlich freute, die aber zu bewältigen war. Als Chevalier de Malte und Veteranen der größten Belagerung aller Zeiten würden ihm alle Türen offenstehen. Besser als all das war jedoch gewesen, daß er den Atlantischen Ozean gesehen hatte, in all seiner grauen und turbulenten Gewalt, die sofort seine Phantasie beflügelte und die ihn überlegen ließ, was wohl jenseits am anderen Ufer liegen mochte.
    In der Ferne erblickte er nun den romanischen Kirchturm, der die Straße bezeichnete, nach der er Ausschau hielt. Er bog nach Süden ab und erspähte eine halbe Meile später ein kleines Herrenhaus auf einem Hügel. Plötzlich merkte er, wie ihm das Herz hoch im Leib schlug, denn auf dem Dach war ein Türmchen mit roten Ziegeln zu sehen.
    Auf dem gepflasterten Hof neben einer Scheune sah er zwei Jungen, die sich im Pferdedung und Stroh prügelten. Vielmehr hatte sich der eine zusammengerollt, während der zweite ihn – ohne große Anzeichen von Erbarmen – in den Rücken und auf den Kopf trat. Da der Unterlegene, der um Gnade winselte, viel älter und größer war, verspürte Tannhäuser nichts als väterlichen Stolz.
    »Orlandu«, sagte er, »laß den armen Tölpel aufstehen, und schick ihn fort.«
    Orlandu machte mitten in einem Tritt kehrt und sah das goldene Pferd. Er hob die Augen, als sehe er eine Erscheinung, undstarrte den Reiter an. Er erholte sich von seinem Schrecken und fragte ungläubig: »Tannhäuser?«
    Bei Gott, der Junge sah gut aus. Und wie wunderbar war es, ihn zu sehen! Mit beträchtlicher Mühe unterdrückte Tannhäuser ein Lächeln und schaute ernst drein: »Ich hatte so gehofft, daß du Latein oder Geometrie lernen würdest oder sonst einer hohen Kunst nachgehst, wenn ich komme«, meinte er. »Doch statt dessen prügelst du dich hier im Stallmist wie ein gemeiner Knecht.«
    Orlandu starrte immer noch mit offenem Maul, war zwischen Begeisterung und Scham hin und her gerissen. Der andere Junge rappelte sich auf und stolperte davon. Tannhäuser stieg ab. Er konnte sein Lächeln nicht mehr unterdrücken.
    »Komm her, mein Junge.« Er breitete die Arme aus. »Und sag mir, wie es dir ergangen ist.«
    Als Orlandus Aufregung endlich so weit abgeklungen war, daß er eine Anweisung befolgen konnte, sagte Tannhäuser: »Ich denke, nun wäre es an der Zeit, daß du der Dame des Hauses meine Ankunft verkündetest.« Er fügte noch hinzu: »Dann versorgst du Buraq und läßt uns in Ruhe, bis wir dich rufen.«
    Tannhäuser ließ sich auf einer Bank im Garten des Châteaus nieder, wo er den ausklingenden Tag genoß und sich am Duft der Obstbäume und Blumen labte und sah, wie üppig hier alles blühte und gedieh. Er spürte Carlas Gegenwart – jene seltsame Aura von Selbstbeherrschung und verheißungsvoller Hingabe, die sie umgab. Eine Frau von Geschmack und Reichtum. Er untersuchte noch einmal seine Erscheinung auf Schmutz und Flecken und stellte fest, daß er vorzeigbar war. Einige Zeit verstrich, und er wurde schon ein wenig unruhig. Er war sich sicher gewesen, daß ihn der Junge herzlich begrüßen würde, bei Carla war er sich nicht so gewiß. Sie hatte viel Zeit und Muße gehabt, darüber nachzudenken, wie närrisch es
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