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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament
Autoren: Tim Willocks
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mußte. Sie würde ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen und einfach hoffen.
    Zum Abschied umarmte sie ihn und sagte: »An der Hauptstraße von Bordeaux nach Perpignan steht eine Kirche mit einem Glockenturm im romanischen Stil, die einzige ihrer Art in jener Gegend. Kurz darauf findet Ihr eine Weggabelung, und der südliche Pfad führt zu einem Herrenhaus in den Bergen, dessen Dach einen einzigen Turm mit roten Ziegeln hat.«
    Tannhäuser hörte sich alles an, ohne zu antworten.
    Carla fuhr fort: »Wenn eine gewisse Abmachung eines Tages erfüllt werden soll, dann werdet Ihr dort die entsprechende Partnerin vorfinden.«
    Zur Antwort küßte Tannhäuser sie.
    Und er ließ dies als sein Versprechen bei ihr und ging fort.
    In Messina stattete Tannhäuser Dimitrianos einen Besuch ab.
    In Venedig erledigte er die Angelegenheiten von Sabato Svi.
    Einem Instinkt folgend, dem er nicht zu widerstehen vermochte,reiste er nach Norden weiter, hoch in den Norden und Osten. Auf dieser Reise lernte er vor allem seine Einsamkeit schätzen. Er schlief in Schweigeklöstern und mied die Gesellschaft von Frauen, und als der Winter immer näher kam, erreichte er sein Heimatdorf und hoffte auf die Freundlichkeit seines Vaters.
    Den Winter und Frühling verbrachte Tannhäuser mit Arbeit in Kristofers Schmiede, und die Verbindung, die der Krieg vor so langer Zeit zerrissen hatte, wurde neu geknüpft. An den frostklaren Morgen kämpfte er mit Feuer und Stahl. Er wurde ein großer Liebling seiner neugefundenen Brüder und Schwestern. Er begleitete seinen Vater auf dessen Reisen, und sie unterhielten sich über die einfachen Dinge des Lebens. Sie teilten einander ihre Erinnerungen mit – zunächst nur unter großen Schmerzen, dann mit einer bittersüßen Freude –, Erinnerungen an die Lieben, die sie verloren hatten. Sie beteten zusammen an den Gräbern von Tannhäusers Mutter, von seiner Schwester Greta und der lieben kleinen Britta. Kristofer hatte sie mit eigener Hand gegraben. Manchmal fragte sich Tannhäuser, ob sich Kristofer noch an den geheimnisvollen Muselman erinnerte, der ihn einmal in der Schmiede besucht hatte. Zuweilen hatte er das Gefühl, daß sein Vater sich erinnerte und daß dieser Fremde für ihn überhaupt nicht fremd gewesen war. Zuweilen glaubte er es nicht. Keiner von beiden erwähnte ihn je, und das war auch richtig so, denn dieser Mann war nun ein Gespenst, am allermeisten für Tannhäuser selbst.
    So erstarkte Tannhäuser wieder an Leib und Seele. Als sich der Winter langsam zurückzog und der Frühling aufblühte, glaubte er, daß er nie wieder hier weggehen würde. Vielleicht kam mit dieser Überzeugung seine Heilung, denn diesen Menschen lag nichts an seiner Vergangenheit oder seinen ruhmreichen Heldentaten. Ihnen lag nur an ihm. Das erinnerte ihn an Amparo, und er dachte nachts an sie, wenn er die Sterne beobachtete, wie sie über den Himmel zogen. Er dachte auch an Carla und Orlandu. Und an Ludovico Ludovici, den tragischen Mönch, der im Zwiespalt zwischen Macht und Liebe den Verstand verloren hatte und der ihmgesagt hatte, daß das Leid die Tore zur Gnade Gottes öffnet, und wahr gesprochen hatte.
    In diesen so entlegenen Bergen begriff Tannhäuser, daß Traurigkeit der rote Faden war, der sein ganzes Leben durchzog und zu einem großen Ganzen zusammenwob, und daß dies kein Grund zum Bedauern war, noch viel weniger zur Resignation. Und das brachte ihm sein Vater bei: Daß trotz aller Trauer, trotz grenzenloser Verluste das Leben wartete, wie ein Barren Roheisen, der nur darauf wartete, daß man ihn bearbeitete und formte. Seit Tannhäuser das letzte Mal in jenem hellen Steintempel ein Feuer angefacht hatte, wo sein Vater Dinge schuf, die es vorher nicht gegeben hatte, waren Kaiser und Päpste gefallen, und die Linien auf den Landkarten waren neu gezogen worden. Man hatte Fahnen geschwenkt. Armeen waren marschiert, und viele Menschen waren ermordet worden und für ihre Völkerstämme und ihre Götter gestorben. Aber noch drehte sich die Erde, denn die himmlischen Sphären tanzten zu ihrer ureigenen Musik. Der Kosmos wurde von der Eitelkeit und dem Genie der Menschen nicht berührt. Der ewige menschliche Geist, wenn es dergleichen überhaupt gab, war hier, bei einem alten Mann, seinem Hammer und seinem Herd und bei seiner Frau und den Kindern, die er liebte.
    Endlich begriff Tannhäuser, daß zwischen Verzweiflung und Liebe, zwischen Schmerzen und Glauben Christus und die Gnade Gottes zu finden
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