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Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Titel: Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
Autoren: Patrick Süskind
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rein, simpel, tröstlich einfach. Grenouille durchquerte den Garten und stieg über die Mauer.
    Oben am Cours musste er sich noch einmal durch Menschendünste kämpfen, ehe er das freie Land gewann. Der ganze Platz und die Hänge glichen einem riesigen verlotterten Heerlager. Zu Tausenden lagen die betrunkenen, von den Ausschweifungen des nächtlichen Festes erschöpften Gestalten herum, manche nackt, manche halb entblößt und halb bedeckt von Kleidern, unter die sie sich wie unter ein Stück Decke verkrochen hatten. Es stank nach saurem Wein, nach Schnaps, nach Schweiß und Pisse, nach Kinderscheiße und nach verkohltem Fleisch. Da und dort qualmten noch die Feuerstellen, an denen sie gebraten, gesoffen und getanzt hatten. Hie und da gluckste noch aus dem tausendfachen Geschnarche ein Lallen oder ein Gelächter auf. Es mag auch sein, dass manch einer noch wachte und sich die letzten Fetzen von Bewusstsein aus dem Gehirn zechte. Aber niemand sah Grenouille, der über die verstreuten Leiber stieg, vorsichtig und rasch zugleich, wie durch Morast. Und wer ihn sah, der erkannte ihn nicht. Er duftete nicht mehr. Das Wunder war vorbei.
    Am Ende des Cours angelangt, nahm er nicht die Straße nach Grenoble, nicht die nach Cabris, sondern er ging querfeldein in westliche Richtung davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen. Als die Sonne aufstieg, fett und gelb und stechendheiß, war er längst verschwunden.
    Die Grasser erwachten mit einem entsetzlichen Kater. Selbst denen, die nicht getrunken hatten, war bleischwer im Kopf und speiübel in Magen und Gemüt. Auf dem Cours, in hellstem Sonnenlicht, suchten biedere Bauern nach den Kleidern, die sie im Exzess der Orgie von sich geschleudert hatten, suchten sittsame Frauen nach ihren Männern und Kindern, schälten sich wildfremde Menschen entsetzt aus intimster Umarmung, standen sich Bekannte, Nachbarn, Gatten plötzlich in peinlichster öffentlicher Nacktheit gegenüber.
    Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollständig unerklärlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen Vorstellungen, dass sie es buchstäblich im Augenblick seines Stattfindens aus ihrem Gedächtnis löschten und sich infolgedessen auch später wahrhaftig nicht mehr daran zurückerinnern konnten. Andere, die ihren Wahrnehmungsapparat nicht so souverän beherrschten, versuchten, wegzuschauen und wegzuhören und wegzudenken was nicht ganz einfach war, denn die Schande war zu offensichtlich und zu allgemein. Wer seine Habseligkeiten und seine Angehörigen gefunden hatte, machte sich so rasch und so unauffällig wie möglich davon. Gegen Mittag war der Platz wie leergefegt.
    Die Leute in der Stadt kamen, wenn überhaupt, erst gegen Abend aus den Häusern, um die dringendsten Besorgungen zu erledigen. Man größte sich nur flüchtig beim Begegnen, sprach nur über das Belangloseste. Über die Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht fiel kein Wort. So hemmungslos und frisch heraus man sich gestern noch gegeben hatte, so schamhaft war man jetzt. Und alle waren so, denn alle waren schuldig. Nie schien das Einvernehmen unter den Grasser Bürgern besser als in jener Zeit. Man lebte wie in Watte.
    Manche freilich mussten sich allein kraft ihres Amtes direkter mit dem befassen, was geschehen war. Die Kontinuität des öffentlichen Lebens, die Unverbrüchlichkeit von Recht und Ordnung erforderten rasche Maßnahmen. Schon am Nachmittag tagte der Stadtrat. Die Herren, darunter auch der Zweite Konsul, umarmten sich stumm, als gelte es, das Gremium durch diese verschwörerische Geste neu zu konstituieren. Dann beschloss man una anima und ohne dass der Vorkommnisse oder gar des Namens Grenouille auch nur Erwähnung getan worden wäre, «die Tribüne und das Schafott auf dem Cours unverzüglich abreißen zu lassen und den Platz und die umliegenden zertrampelten Felder wieder in ihren vormaligen ordentlichen Zustand versetzen zu lassen». Hierfür wurden hundertsechzig Livre bewilligt.
    Gleichzeitig tagte das Gericht in der Prévoté. Der Magistrat kam ohne Aussprache überein, den «Fall G.» als erledigt zu betrachten, die Akten zu schließen und ohne Registratur zu archivieren und ein neues Verfahren gegen einen bislang unbekannten Mörder von fünfundzwanzig Jungfrauen im Grasser Raum zu eröffnen. An den Polizeilieutenant erging der Befehl, die Untersuchungen unverzüglich aufzunehmen.
    Schon am nächsten Tag wurde er fündig. Aufgrund eindeutiger Verdachtsmomente verhaftete man
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