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Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Titel: Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
Autoren: Patrick Süskind
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ausmaß, bald von dieser, bald von jener Seite einen imaginierten Schlag führte, brach regelrechter Jubel aus.
    Um vier begann sich die Tribüne zu füllen. Es gab viel feine Leute zu bestaunen, reiche Herren mit Lakaien und guten Manieren, schöne Damen, große Hüte, glitzernde Kleider. Der gesamte Adel aus Stadt und Land war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem Zug, angeführt von den beiden Konsuln. Richis trug schwarze Kleider, schwarze Strümpfe, schwarzen Hut. Hinter dem Rat marschierte der Magistrat ein, unter Leitung des Gerichtspräsidenten. Als letzter kam der Bischof im offenen Tragstuhl, in leuchtend violettem Ornat und grünem Hütchen. Wer noch bedeckt war, nahm spätestens jetzt die Mütze ab. Es wurde feierlich.
    Dann geschah etwa zehn Minuten lang nichts. Die Herrschaften hatten Platz genommen, das Volk harrte reglos, niemand aß mehr, alles wartete. Papon und seine Knechte standen auf der Bühne des Schafotts wie angeschraubt. Die Sonne hing groß und gelb über dem Esterei. Aus dem Grasser Becken kam ein lauer Wind und trug den Duft der Orangenblüten herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still.
    Endlich, als man schon meinte, die Spannung könne nicht länger andauern, ohne in einen tausendfachen Schrei, einen Tumult, eine Raserei oder ein sonstiges Massenereignis zu zerplatzen, hörte man in der Stille Pferdegetrappel und das Knirschen von Rädern.
    Die Rue Droite herunter kam ein geschlossener zweispänniger Wagen gefahren, der Wagen des Polizeilieutenants. Er passierte das Stadttor und erschien, nun für jedermann sichtbar, in der schmalen Gasse, die zum Richtplatz führte. Der Polizeilieutenant hatte auf diese Art der Vorführung bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu können glaubte. Üblich war sie durchaus nicht. Das Gefängnis lag kaum fünf Minuten vom Richtplatz entfernt, und wenn ein Verurteilter diese kurze Strecke, aus welchem Grunde immer, zu Fuß nicht mehr bewältigte, so hätte es ein offner Eselskarren auch getan. Dass einer zur eigenen Hinrichtung in der Karosse vorfuhr, mit Kutscher, livrierten Dienern und Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt.
    Trotzdem kam in der Menge nicht Unruhe oder Unmut auf, im Gegenteil. Man war zufrieden, dass überhaupt etwas geschah, hielt die Sache mit der Kutsche für einen gelungenen Einfall, ähnlich wie im Theater, wo man es schätzt, wenn ein bekanntes Stück auf überraschend neue Weise präsentiert wird. Viele fanden sogar, der Auftritt sei angemessen. Einem so außergewöhnlich abscheulichen Verbrecher gebührte eine außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie einen ordinären Straßenräuber in Ketten auf den Platz zerren und erschlagen. Daran wäre nichts Sensationelles gewesen. Ihn vom Equipagenpolster weg auf das Andreaskreuz zu führen - das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit.
    Die Kutsche hielt zwischen Schafott und Tribüne. Die Lakaien sprangen ab, öffneten den Schlag und klappten das Treppchen herunter. Der Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier der Wache und endlich Grenouille. Er trug einen blauen Rock, ein weißes Hemd, weiße Seidenstrümpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand führte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann.
    Und dann geschah ein Wunder. Oder so etwas ähnliches wie ein Wunder, nämlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerhörtes und Unglaubliches, dass alle Zeugen es im nachhinein als Wunder bezeichnet haben würden, wenn sie überhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen wären, was nicht der Fall war, da sie sich später allesamt schämten, überhaupt daran beteiligt gewesen zu sein.
    Es war nämlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und auf den umliegenden Hängen sich von einem Moment zum anderen von dem unerschütterlichen Glauben durchtränkt fühlten, der kleine Mann im blauen Rock, der soeben aus der Kutsche gestiegen war, könne unmögl i ch ein Mörder sein. Nicht dass sie an seiner Identität zweifelten! Da stand derselbe Mensch, den sie vor wenigen Tagen auf dem Kirchplatz am Fenster der Prévoté gesehen hatten und den sie, wären sie damals seiner habhaft geworden, in wütendem Hass gelyncht hätten. Derselbe, der zwei Tage zuvor aufgrund erdrückender Beweise und eigenen Geständnisses rechtskräftig verurteilt worden war. Derselbe, dessen Erschlagung durch den Scharfrichter sie noch vor einer Minute gierig
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