Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
Ihnen etwas aus, wenn ich für zwei Stunden fortgehe? Ich komme auf jeden Fall heute nachmittag wieder.«
    »Gehen Sie, gehen Sie, Pastor, machen Sie sich keine Sorgen. Jetzt geht es mir gut.«
    Er wollte noch einen Scherz machen (»mein Tod ist Claveries Niederlage, Pastor, denn ich werde ihm nicht die Strafe zahlen, und er kann mich nicht ins Gefängnis stecken«), aber er war schon wieder allein. Eine Weile später waren die wilden Katzen wieder da und strichen durch das Atelier. Aber auch die wilden Hähne waren da. Warum fraßen die Katzen nicht die Hähne? Waren sie wirklich zurückgekommen oder war es eine Halluzination, Koke? Denn seit einiger Zeit hatte sich die Grenze aufgelöst, dieTraum und Leben einst so klar voneinander geschieden hatte. Was du jetzt erlebtest, das hattest du immer malen wollen, Paul.
    In dieser zeitlosen Zeit wiederholte er für sich, wie eine dieser Formeln, mit denen die Buddhisten beteten, die dem guten Schuff so teuer waren:
    Dir hab ich’s verdorben,
    Bin weggestorben
    Dir hab ich’s verdorben.
    Ja, du hattest Claverie die Sache verdorben: Du würdest weder die Strafe zahlen noch ins Gefängnis gehen. Du hattest gewonnen, Koke. Er hatte das vage Gefühl, daß einer dieser faulen Diener, die fast nie mehr im Haus der Wonnen erschienen, vielleicht Kahui, zu ihm trat, um an ihm zu schnüffeln und ihn zu berühren. Und er hörte ihn rufen: »Der popa’a ist tot«, bevor er verschwand. Aber du konntest noch nicht tot sein, da du noch immer dachtest. Er war ruhig, wenn auch betrübt, daß er nicht wußte, ob es Tag oder Nacht war.
    Schließlich hörte er Stimmen draußen. »Koke! Koke! Geht’s dir gut?« Tioka, ohne den geringsten Zweifel. Er versuchte gar nicht erst, ihm zu antworten, denn er war sicher, daß kein Laut aus seiner Kehle kommen würde. Er erriet, daß Tioka die Leiter zum Atelier hochkletterte und dann mit seinen bloßen Füßen auf dem Holzboden ging. Dicht vor seinem Gesicht sah er das seines Nachbarn, so bekümmert, so verstört, daß er unendliches Mitleid empfand, weil er ihm diesen Schmerz zufügte. Er wollte ihm sagen: »Sei nicht traurig, ich bin nicht tot, Tioka.« Aber natürlich kam keine einzige Silbe aus deinem Mund. Er versuchte, den Kopf, eine Hand, einen Fuß zu bewegen, und natürlich gelang es dir nicht. Verschwommen nahm er mit seinen halbgeschlossenen Augen wahr, daß sein Namensbruder angefangen hatte, ihn auf den Kopf zu schlagen, heftig, und bei jedem Schlag ausstieß: »Danke, meinFreund.« War er dabei, dir in Befolgung irgendeines obskuren Rituals der Marquesainseln den Tod aus dem Körper zu prügeln? »Es ist vergeblich, Tioka.« Du hättest weinen mögen, so bewegt warst du, aber natürlich kam keine einzige Träne aus deinen trockenen Augen. In der gleichen ungewissen, langsamen, gespenstischen Weise, in der er noch immer die Welt wahrnahm, bemerkte er, daß Tioka, nachdem er ihn auf den Kopf geschlagen und an den Haaren gezogen hatte, um ihn ins Leben zurückzuholen, seinen Versuch aufgab. Jetzt hatte er zu singen, zu heulen begonnen, mit einer bitteren Sanftheit, neben seinem Bett. Dabei wiegte er sich auf den Beinen und vollführte, ohne sich von der Stelle zu rühren, den Tanz, mit dem die Maori der Marquesas ihre Toten verabschiedeten. Warst du nicht Protestant, Tioka? Daß unter dem evangelischen Glauben, zu dem dein Nachbar sich scheinbar bekannte, noch immer die Religion der Vorfahren fortlebte, freute ihn. Du konntest noch nicht tot sein, denn du sahst ja, wie Tioka deine Totenwache hielt und dich verabschiedete, nicht wahr, Koke?
    In dieser zeitlosen Zeit, die jetzt seine war, betraten, geführt von dem Diener Kahui, der Bischof von Hiva Oa, Monseigneur Joseph Martin, und seine Begleiter das Atelier, zwei Angehörige der bretonischen Ordensgesellschaft der Brüder von Ploërmel, denen die Jungenschule der katholischen Mission unterstand. Ihm war, als würden die beiden Ordensbrüder sich bekreuzigen, als sie ihn sahen, aber der Bischof nicht. Monseigneur Martin neigte sich über ihn und musterte ihn eine ganze Weile, ohne daß sich der mürrische Ausdruck seines Gesichts im mindesten veränderte.
    »Was ist das für ein Schweinestall«, hörte er ihn sagen. »Und wie es stinkt. Er muß schon seit Stunden tot sein. Der Leichnam riecht. Man muß ihn so rasch wie möglich begraben, die Fäulnis kann eine Infektion auslösen.«
    Er war noch nicht tot. Aber er sah nicht mehr, weil jemand der Anwesenden ihm die Augen zugedrückt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher