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Das Niebelungenlied

Das Niebelungenlied

Titel: Das Niebelungenlied
Autoren: Manfred Bierwisch
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absichtsvollen Längen in und zwischen den dramatischen Höhepunkten und vieles mehr. Denn wir hatten in den Details des Textes auch das nachzuvollziehen, was die Germanisten sarkastisch die Schneiderstrophen nennen, in denen vor allem mit kostbarer Kleidung renommiert wird, und insgesamt die kunstvolle Zeilenschinderei der Spielmanns-Epik, die von den unermüdlichen Turnierspielen bis zur immer erneuten Beteuerung der höfischen Ränge und persönlichen Tugendender Personen eine große Freude an Wiederholungen erkennen läßt. Wir haben auf die getreuliche Wiedergabe der Formeln und Floskeln lediglich da verzichtet, wo der Dichter ganz offensichtlich nur eine Strophe abzuschließen, einen Reim zu vervollständigen hatte.
    In unseren oben erwähnten Marginalien allerdings haben wir uns mit Kommentaren zur eigenen Klärung und mit gelegentlichen Sottisen nicht zurückgehalten. Ich erinnere mich an eine, die uns so gut gefiel, daß wir sie nicht gleich wieder streichen wollten: Im Gemetzel der vorletzten Aventiure sagt Meister Hildebrants Neffe Wolfhart, nachdem er und König Gunthers Bruder Gîselher einander erschlagen haben, zu seinem Oheim, die Verwandten sollten nicht trauern, »denn ich habe einen herrschaftlichen Tod durch einen König gefunden«. Dem hatte Johnson angefügt »Ich bin immerhin von einem Mercedes 600 überfahren worden!« Daß wir dies zur Meinungsbildung auch dem Reclam-Verlag im Manuskript unterbreitet haben, ist mir dann als Tücke ausgelegt worden, mit der die Aufmerksamkeit des Lektorats getestet werden sollte, was uns allerdings vollkommen ferngelegen hat: wir wußten ja, daß wir noch Korrektur zu lesen hatten.
    Jedenfalls waren unsere eigenen Gespräche über die abschließende Textgestalt ein spannender und mitunter kontroverser Vorgang. Zum einen ging es um den nie ganz befriedigend einzulösenden Versuch, die Wertvorstellungen des Dichters und seiner Personen nachvollziehbar auszudrücken, ohne ihnen ihre Befremdlichkeit zu nehmen. Zum anderen mußte der Text, dem mit der Versgestalt nicht einfach eine äußerliche Zutat, sondern etwas von seiner originären Daseinsweise genommen war, in einer nüchternen Prosa aufgefangen werden. Die sollte nicht Ersatz anbieten, sondern lediglich offenlassen, was durch das Weggefallenean Defiziten entstanden war. In beiden Hinsichten – in der Weltsicht wie in der Sprachform des Gedichts – war dabei gewissermaßen die mittelalterliche Werte- und Kleiderordnung gegenüber einer heute zugänglichen Denkform in einem akzeptierbaren Sprachduktus zu verteidigen. Das passierte nicht immer reibungslos, und jedenfalls kannten wir die Probleme am Ende besser als zu Beginn.
    Eins allerdings haben wir im vorhinein erörtert und entschieden. Die Schreibung der Eigennamen mußte geklärt werden – eine scheinbar periphere, tatsächlich aber durchaus folgenreiche Festlegung. Statt der vertrauten Formen Siegfried oder Sigfrid , Kriemhild , Brünhild und Hagen von Tronje haben wir die ungewohnte Schreibung des Originaltextes, also Sîfrit , Kriemhilt , Prünhilt und Hagen von Tronege beibehalten. Das mag ambitiös und allenfalls unerheblich scheinen, und es war zunächst auch nur eine Verabredung über ein orthographisches Detail. Aber es brachte zwei keineswegs marginale Konsequenzen mit sich. Beabsichtigt war der Effekt, daß die fremde Schreibung vertrauter Namen im Schriftbild die Distanz zu den Personen und ihren Geschichten deutlich macht. Das häufige Vorkommen der Eigennamen führt dabei hartnäckig und immer wieder vor Augen, daß es eben nicht um Siegfried und Rüdiger, sondern um Sîfrit und Rüedegêr geht. Die Schreibung bekräftigt damit das Unvertraute des Inhalts, den Abstand zur erzählten Welt.
    In Kauf zu nehmen war dabei eine deutliche Inkonsequenz, weil aus zwei Gründen das Prinzip nicht wirklich und strikt durchzuhalten ist. Erstens wirkt sich auch in den Eigennamen der Scharfsinn der mittelhochdeutschen Schreiber aus. Anders als in der modernen Orthographie wird die sogenannte Auslautverhärtung im Schriftbild wiedergeben und zu Sîfrit z. B. der Genitiv Sîfrides gebildet.Hätten wir diesem Prinzip folgen wollen, dann hätten wir die gegenwärtige Regelung aufgeben müssen, daß ein Name eine konstante Schreibung hat. Zum zweiten wäre konsequenterweise das Prinzip nicht nur auf die Personennamen, sondern auf Namen überhaupt anzuwenden gewesen. Das aber würde ganz unplausibel, denn wie sehr auch Worms, Xanten oder Passau sich seit dem
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