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Das neue Philosophenportal

Das neue Philosophenportal

Titel: Das neue Philosophenportal
Autoren: R Zimmer
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»operativ«, d.   h. als Vorgang sichtbar. Wir können also keine Bewegungen wahrnehmen, an denen Gegenstände in gleichem Maße teilnehmen. Dieses
     neue Verständnis von Bewegung dient ihm nun zur Deutung des fallenden Steins. Die gekrümmte Bahn des Steins ist für uns nicht
     sichtbar,weil sie vor dem Hintergrund einer anderen Bewegung stattfindet, nämlich der durch die Erdbewegung hervorgerufenen Bewegung
     des Turms. Feyerabend, der Überspitzungen liebte, bezeichnet diese von Galilei vorgenommene Änderung der Interpretationsbasis
     als »propagandistische Machenschaften« nach dem Motto: Man hat zwar richtig beobachtet, muss die Sache aber in einem anderen
     Beobachtungskontext sehen.
    Feyerabend fügt ein weiteres Beispiel für Galileis Art an, die kopernikanische Theorie mit Hilfe fauler Tricks durchzusetzen.
     Wenn Planeten wie Venus und Mars sich um die Sonne bewegen, so Galileis Gegner, so müssten sie, wenn sie sich vor der Sonne
     bewegen, uns etwa vierzig Mal größer und damit entsprechend heller erscheinen, als wenn sie sich hinter der Sonne bewegen.
     Wenn wir den Himmel beobachten, sehen sie aber immer gleich hell und groß aus.
    Auch hier bestreitet Galilei nicht die Beobachtung, verändert aber die Beobachtungsbasis. Er fordert seine Gegner auf, die
     Planeten mit einem neuen Instrument, dem Fernrohr zu betrachten. Die Überlegenheit von Fernrohrbeobachtungen gegenüber normalen
     Sinneswahrnehmungen war aber nicht unumstritten. Im Fernrohr, so Feyerabend, »zeigten sich künstliche und widersprüchliche
     Erscheinungen, und einige Beobachtungsergebnisse ließen sich durch einen einfachen Blick mit dem unbewaffneten Auge widerlegen«.
     Für Galilei hatte das Fernrohr aber den unschätzbaren Vorteil, dass man mit seiner Hilfe die Größenveränderung von Mars und
     Venus erkennen und damit die kopernikanische Theorie bestätigen konnte. Sein Plädoyer für das Fernrohr als neue Beobachtungsbasis
     war also taktischer Natur.
    Ein solches taktisches, »nicht-rationales« Vorgehen ist nach Feyerabend nicht nur typisch, sondern auch unumgänglich für die
     Wissenschaft. Wenn Galilei, so Feyerabend, sich an die rationalen Vorgehensregeln gehalten hätte, wäre er niemals weitergekommen.
     Es gibt keine Regel, die nicht irgendwann verletzt worden wäre. Oft liegt der Augenschein auf der Seite der wissenschaftlichen
     Orthodoxie, während die Erneuerer zu ihren richtigen Erkenntnissen auf »kontrainduktivem« Weg gelangen. Anders als induktiv,
     wo man von gesichertenDaten ausgeht und von dort auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten schließt, heißt kontrainduktiv, dass man die scheinbar schwächere
     Position stützt, indem man eine Hypothese in den Raum wirft, die den bekannten Tatsachen geradezu widerspricht. Erst im Lichte
     neuer, unorthodoxer Theorien ist es nach Feyerabend möglich, neue Tatsachen ausfindig zu machen. Eine solche kontrainduktive
     Vorgehensweise bestätigt sich oft erst im Nachhinein. Für Feyerabend ist auch Galileis Vorgehen deshalb fruchtbar, weil es
     kontrainduktiv war, weil es also nicht den scheinbar klaren Tatsachen gefolgt ist, sondern durch eine neue Blickweise, wie
     im Falle von Mars und Venus, neue Daten hervorgebracht hat.
    Neue Theorien sind mit den alten häufig »inkommensurabel«, d.   h. unvereinbar in dem Sinne, dass sie nebeneinander existieren, ohne dass ein Vergleich ihrer Wahrheitsnähe möglich wäre.
     Dieser Fall ist für Feyerabend in der Wissenschaftsgeschichte die Regel und nicht die Ausnahme. Es sind Theorien, die nur
     scheinbar dieselbe Sprache sprechen. Wenn in der Newton’schen Physik von »Energie« die Rede ist, so ist damit etwas ganz anderes
     gemeint als in der Relativitätstheorie Einsteins. Welchen Maßstab kann es dann noch für den höheren Wahrheitsgehalt einer
     Theorie geben?
    Wissenschaftliche Theorien verhalten sich also häufig zueinander wie verschiedene Sprachen. So wird niemand behaupten können,
     dass die englische Sprache die Welt besser erfasst als die niederländische oder schwedische. Sie erfasst sie lediglich
anders
. Genau in diesem Sinne hatte Wittgenstein von verschiedenen, nebeneinander bestehenden »Sprachspielen« gesprochen.
    Anders als Popper behauptet hatte, umfasst der Erklärungsgehalt einer neuen Theorie also nicht notwendigerweise den der alten.
     Vielmehr können wir erst durch die Konkurrenz von Theorien, die sich möglicherweise auch ausschließen, unseren Blick auf die
     Welt erweitern. Die Ablösung
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