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Das neue Philosophenportal

Das neue Philosophenportal

Titel: Das neue Philosophenportal
Autoren: R Zimmer
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Frage gestellt wird; und eine »außerordentliche« Wissenschaft, eine Wissenschaft in Zeiten der Krise, in denen
     die Anomalien sich derart häufen, dass es zu einer Revolution des wissenschaftlichen Denkens und zur Ablösung des alten durch
     ein neues Paradigma kommt. Dieser »Paradigmenwechsel« erfolgt aber nicht rational, er ist nicht Ergebnis eines stetigen, allmählichen
     Reformprozesses, sondern er vollzieht sich in der Art eines revolutionären Staatsstreichs. Ein neues Paradigmasetzt sich oft auch dann schon durch, wenn die neue Theorie keineswegs einen größeren Gehalt als die alte hat. Nicht Argumente
     und Fakten, sondern Taktik und Propaganda spielen nach Kuhn dabei eine große Rolle.
    Nachdem Popper seine Auffassung vom Erkenntnisfortschritt in der Wissenschaft in seinem 1963 erschienenen Buch
Vermutungen und Widerlegungen
noch einmal erläutert hatte, organisierte Imre Lakatos, der langjährige Assistent Poppers und ein enger Freund Feyerabends,
     1965 in London einen Kongress über die Thesen Kuhns und Poppers. Dabei rückte auch Lakatos von Popper ab, hielt aber noch
     an der Idee eines rationalen Erkenntnisfortschritts fest. Dieser entsteht aber seiner Meinung nach nicht mehr durch Falsifizierung
     einzelner Theorien, sondern durch den Wechsel sogenannter »Forschungsprogramme«. Ein Forschungsprogramm ist ein Bündel von
     Theorien, die durch einen »harten Kern« gemeinsamer Annahmen miteinander verbunden sind.
    Feyerabend war nun derjenige, der den radikalsten Schnitt mit Popper vollzog. Ebenso wenig wie Kuhn glaubte er, dass es bei
     der Ablösung von Theorien rational zugeht. Aber auch, dass die Wissenschaft die Deutungshoheit über Vernunft, Erkenntnis und
     Wahrheit beansprucht, wurde ihm zunehmend suspekt. Dabei war er vor allem von zwei Denkern inspiriert worden: von John Stuart
     Mill und seiner Freiheitstheorie und von Ludwig Wittgensteins Idee der »Sprachspiele«.
    In seinem programmatischen Essay
Über die Freiheit
von 1859 trat John Stuart Mill, der Vater des modernen englischen Liberalismus, für einen Pluralismus individueller Lebensformen
     ein, die gleichberechtigt nebeneinander existieren und dem Zugriff staatlicher Autoritäten entzogen bleiben sollten. Wittgenstein
     wiederum formulierte in seinem 1951 erschienenen Spätwerk
Philosophische Untersuchungen
die These, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke vom Gebrauch abhängt und letztlich durch den kulturellen Rahmen eines
     Sprachspiels vermittelt wird. Dies übertrug Feyerabend nun nicht nur auf die Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Theorien,
     sondern auch auf die Beziehung zwischen Wissenschaft und anderen,nicht-rationalen Formen der Welterklärung. Auch die Wissenschaft ist danach nur eines von vielen Sprachspielen, das gegenüber
     anderen »Sprachspielen« wie Kunst, Religion u.   a. keine Bevorzugung verdient. Aus der Lektüre Mills und Wittgensteins entwickelte Feyerabend seine eigene, radikale Form
     des philosophischen Pluralismus.
    Angeregt durch die 68er-Bewegung, die in Berkeley einen ihrer Ausgangspunkte hatte, schlüpfte Feyerabend, der Liebhaber von
     Theater und Klamauk, immer mehr in die Rolle des Provokateurs, der dem traditionellen Wissenschaftsbetrieb eine lange Nase
     zeigen wollte. Er las Mao Tse Tung und Lenin und erschien auf offiziellen Banketten mit einem alten Militärmantel. Seine Vorlesungen
     fanden nun, zum Ärger der Universitätsverwaltung, außerhalb der Universität in öffentlichen Gebäuden statt, wobei Feyerabend
     die Studenten reden ließ und selbst nur noch die Rolle des Moderators einnahm. Feyerabend inszenierte seine akademischen Veranstaltungen
     – und nicht zuletzt sich selbst – als Happening.
    Mit Imre Lakatos entwickelte sich nun eine besonders enge Diskussionsbeziehung. In den späten 60er Jahren tauschten Lakatos
     und Feyerabend in zahllosen Briefen ihre gegensätzlichen Positionen aus, bis Lakatos Feyerabend schließlich aufforderte, seine
     Auffassungen schriftlich niederzulegen. Es entstand der Plan eines Buches, das die Diskussion zwischen beiden dokumentieren
     sollte. Lakatos war dabei die Rolle des »Rationalisten« zugedacht, während Feyerabend die Rolle des »Irrationalisten« spielen
     sollte, der immer mehr Ungereimtheiten in der Wissenschaftsgeschichte entdeckte. Geplant war eine Streitschrift, eine Art
     persönliche Auseinandersetzung, aber auch, in dadaistischer Tradition, eine unsystematische Collage von Argumenten und Fallbeispielen.
     Den
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