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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium
Autoren: Mattias Gerwald
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Sie wissen am besten, ob er echt ist oder nicht.«
    »Eine gute Entscheidung«, sagte Henri.
    »Das finde ich auch«, bestätigte Joshua. »Lassen wir alles so, wie es ist. Denn es ist gut so.«
    »Auch das ist mir recht«, sagte Henri. »Nach allem, was geschehen ist, wäre es mir lieb und teuer, wenn unser Glaube nicht beschädigt würde.«
    »Aber etwas müssen wir noch hinterfragen«, sagte Madeleine. »Denn so, wie es zwischen Uthman und mir ist, kann es nicht bleiben.«
     
     
    Am Kap Apostolos Andreas toste der Wind. Hier war der Wind mehr als ein Wetterphänomen. In ihm schien sich die beseelte Natur mitzuteilen.
    Unter der Gewalt des Windes duckte sich die niedrige, von Steinen gehaltene Macchie an den Boden und krallte sich fest, um nicht ins Meer gerissen zu werden. Das Meer brandete unten gegen die Felsen, weiter draußen lag es flach und tückisch, lauernd wie ein Tier, unter einem niedrigen Himmel.
    Kleine Felseninseln vor der Küste zogen die Blicke von Uthman und Madeleine an, bevor sie dorthin geleitet wurden, wo Himmel und Meer sich vereinten, als begrenzte diese Horizontlinie wirklich, wie die Alten sagten, den äußersten Rand der Weltenscheibe. Und als läge dahinter das Nichts, das wahre Inferno.
    Am Rand dieses magischen Ortes gab es eine geheimnisvolle Windrose, die schon in antiker Zeit in den felsigen Untergrund gehauen worden war. Niemand wusste, von wem.
    Hier, an der nordöstlichen Ecke der Insel, hatte alles ein Ende. Und hier, am letzten Riff Zyperns, führten Uthman und Madeleine ihr letztes und entscheidendes Gespräch.
    Hinter den wenigen schneeweißen Gebäuden am Kap, die einst Kultstätten gewesen sein mussten, begannen endlose Quadratmeilen von Steinen, Sand und Gras – ein sturmumtostes Geröllfeld, das am Ende wie eine Schanze in den Himmel zu wachsen schien. Das Gelände hob sich, der Himmel senkte sich, dazwischen duckten sich Blicke in die Ferne, auf zerklüftete Steilhänge, felsige Grotten, ein Leuchtfeuer, auf den Abgrund zwischen anderen Abgründen. Darüber kreisten Raben und Seevögel.
    Jeder Schritt mit dem Wind führte Uthman und Madeleine an alten Mauern vorbei, die trotz der Sonnenstrahlen feucht waren. Dahinter ging es zu drei Seiten jäh in die Tiefe. Möwen balancierten auf den letzten Felszacken, ließen sich gegen den Wind fallen und torkelten in die Tiefe. Ihr Schreien klang wie das von Menschen.
    Das Meer tobte blau, grün und bleigrau.
    »Ob hierher jemals jemand kommt?«, fragte Madeleine.
    »Die Mönche vom Andreaskloster nennen es das Kap der Welt«, erklärte Uthman.
    Madeleine öffnete sich der Wärme, die sich breit machte, wenn der Wind nachließ. Sie ergriff Uthmans Hand. So gingen sie hinaus.
    »Hier ist es seltsam«, sagte Madeleine, »und gleichzeitig empfinde ich hier meine innerste Sehnsucht nach Freiheit.«
    Uthman antwortete nicht.
    »Ich fühle mich frei.«
    Uthman schwieg weiterhin. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte.
    Madeleine dachte, dass sie hier bleiben konnte. Sie empfand etwas, das sie noch nie gespürt hatte – sie war ohne jede Angst sie selbst. Was konnte ihr passieren?
    Sie blieben stehen und suchten nach einem Platz am Felsabhang.
    »Hast du keine Angst, Madeleine?«
    »Ich bin schwindelfrei, wenn du das meinst. Es kann mir nicht hoch genug sein.«
    »Ich meinte es anders«, erwiderte Uthman. »Wir müssen eine Entscheidung treffen.«
    »Ich glaube, dass wir ein Leben führen sollten, das schwindelfrei macht«, scherzte Madeleine.
    Uthman stimmte der Anblick des Meeres traurig. Madeleine schien es gerade anders zu empfinden.
    »Dieses Kap ist ein merkwürdiger Ort«, sagte Uthman. »Es ist kein Ort für Menschen, die Angst vor dem Alleinsein haben. Eigentlich ein idealer Ort für Selbstmörder, die in sich hineingeblickt haben und einen Abgrund sahen, die ihr Leben fürchten und ins Paradies eingehen wollen.«
    Madeleine schüttelte den Kopf. »Auf jeden Fall aber ist es der Ort für Gedanken, in die niemand hineinreden kann. Ich fühle mich so stark wie nie zuvor.«
    »Das ist schön!«, sagte Uthman.
    »Am besten«, erwiderte Madeleine, »wir bleiben gleich hier sitzen und rühren uns nicht mehr. Höchstens dann, wenn wir ins Kloster hinüber müssen. Wir bauen eine Moschee, dort bist du dann zu Hause. Und wenn du wieder zu mir kommst, dann studieren wir, ob sich das Lächeln in unseren Gesichtern verändert hat.«
    Bei ihren Worten spürte Uthman, wie sich in ihm etwas öffnete. Es wurde ihm ganz
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