Das neue Buch Genesis
tun ist. Adam jedoch beschließt aus einer sentimentalen Laune heraus, seinen Freund zu töten und die Sicherheit seines Landes aufs Spiel zu setzen. Haben wir Sie richtig verstanden, dass Sie glauben, man könne dieses Verhalten unterschiedlich beurteilen?
Anax zögerte. Auf diese Art von Fragen war sie nicht vorbereitet. Ihr Spezialgebiet war Geschichte und nicht Ethik. Sie konnte erklären, wie man die einzelnen Elemente von Adams Geschichte zu einem Ganzen zusammengefügt hatte, aber sie kannte keine Methode, mit der man diese Geschichte beurteilen sollte. Natürlich hatte sie ihre eigene Meinung. Die hatte jeder. Wer hatte diese Diskussion nicht geführt: zu Hause, in der Schule, im Freizeitzentrum? Aber sie war nicht darauf vorbereitet, sie zu verteidigen, nicht offiziell. Sie war nicht dazu qualifiziert. Perikles hatte ihr geraten, jede Frage möglichst vollständig und wahrheitsgemäß zu beantworten. Er hatte ihr gesagt, sie würden versuchen, sie zu verunsichern, und sie mit unerwarteten Perspektiven überraschen. Sie wog jedes Wort ab.
ANAXIMANDER: Ich glaube, jeder weiß, dass viele in der Gemeinschaft Adam Sympathie entgegenbringen. Und das ist auch kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, welche entscheidende Rolle er in unserer Geschichte gespielt hat. Ich halte es für verständlich, dass manche in ihm einen Helden sehen. Ich glaube, das sagt uns eine innere Stimme.
PRÜFER: Und sagt Ihnen Ihre innere Stimme das auch?
ANAXIMANDER: Ich meinte damit, dass wir alle diese innere Stimme haben. Was Sie vermutlich wissen möchten, ist, ob ich es für richtig halte, auf diese Stimme zu hören oder sie zu kontrollieren. Adam hatte Mitleid mit dem hilflosen Mädchen. Man hatte ihm befohlen, dieses Mitleid zu ignorieren, und die Gründe für diese Anweisung waren sehr vernünftig. Auch wenn er vielleicht glaubte, dass die Bedrohung durch die Große Seuche vorüber war, war es unvernünftig, eine Entscheidung von solcher Tragweite für die Nation ganz allein zu treffen. Er war kein Virologe. Dennoch glaube ich, dass jene, die Adams Verhalten nachvollziehen können, instinktiv begreifen, wie wichtig Mitgefühl ist. Damit eine Gesellschaft erfolgreich funktionieren kann, ist vielleicht ein Maß an Mitgefühl nötig, das nicht korrumpiert werden kann.
Zum ersten Mal war bei allen drei Prüfern eine Veränderung erkennbar. Sie strafften sich. Der mittlere wirkte noch bedrohlicher. Ihre Augen glühten.
PRÜFER: Wollen Sie damit sagen, eine von der Seuche zermürbte Gesellschaft ist besser als eine von Gleichgültigkeit zerrüttete Gesellschaft?
ANAXIMANDER: Das ist eine gute Art, die Frage zu formulieren.
PRÜFER: Und wie lautet Ihre Antwort?
ANAXIMANDER: Ich glaube, in Anbetracht der damaligen Umstände kann man Adams Verhalten und seine romantische Verklärung unmöglich gutheißen, obwohl wir angesichts unserer Geschichte allen Grund haben, ihm dankbar zu sein.
Stille. Sie wollten noch mehr von ihr hören, doch Anax wusste, dass sie gerade noch einmal davongekommen war, und schwieg. Sie war fest entschlossen, nicht noch einmal in die Schusslinie zu geraten.
PRÜFER: Eine interessante Antwort.
ANAXIMANDER: Es war eine interessante Frage.
PRÜFER: Bestimmt haben Sie die Zeit mit verfolgt . Die erste Stunde der Prüfung ist vorüber. Wir werden Sie gelegentlich bitten, draußen zu warten, damit das Gremium beratschlagen kann.
ANAXIMANDER: Soll ich jetzt hinausgehen?
PRÜFER: Wenn Sie nichts dagegen haben.
ANAXIMANDER: Und was ist mit der Zeit?
PRÜFER: Die wird so lange angehalten.
Anax spürte, wie die Türen hinter ihr aufglitten. Wieder eine unerwartete Entwicklung. Eine Stunde hatte sie hinter sich. Bleiben noch vier, sagte sie sich. Ruhe bewahren.
Neben der Tür des Wartezimmers stand ein Wachposten, vermutlich um sicherzugehen, dass sie mit niemandem draußen Kontakt aufnahm. Er war älter als sie. Sie lächelte ihm zu. Er wandte sich ab.
Anax versuchte, die Zeit für sich zu nutzen. In Wahrheit war die Unterbrechung genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Sie hatte sie angelogen. Sie hatte es erst gemerkt, als sie gezwungen war, es laut auszusprechen, und das Gefühl war so merkwürdig, dass es den Prüfern kaum entgangen sein konnte. Ja, Adams Verhalten war romantisch gewesen, unvernünftig, unvertretbar. Und doch, als Anax gezwungen war, Position zu beziehen, hatte sie gelogen.
Sie wusste nicht, ob sie genauso gehandelt hätte, wenn sie an seiner Stelle im Wachturm gesessen hätte. Sie
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