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Das Multiversum Omnibus

Das Multiversum Omnibus

Titel: Das Multiversum Omnibus
Autoren: Stephen Baxter
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Jahreszeit fiel. Mary schloss die Augen und hob den offenen Mund zum Himmel, denn sie wusste, dass es lang dauern würde, bis sie wieder Regen im Gesicht spürte.
    Der Boden verwandelte sich in eine Fläche aus zusammengeba-ckenem und rissigem Schlamm.
    Die Leute zogen sich in die Höhle zurück. Dieselben massiven Felswände, die sie vor der beißenden Kälte des Winters geschützt hatten, spendeten ihnen nun Kühle.
    Nemotos chronische Krankheit zwang sie auf die Pritsche, wo sie mit einer ledernen Augenbinde liegen blieb.
    Schließlich kam der Tag, wo die Sonne nicht einmal mehr über den tiefsten Punkt des Horizonts kletterte. Sie würde für achtundsechzig Tage weder auf-noch untergehen und nur endlose und be-deutungslose Kreise am Himmel ziehen, Kreise, die immer enger und steiler werden würden.
    Der Lange Tag hatte begonnen.
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    Nemoto sagte, sie würde nicht eher in die Grube fahren, bis sie wieder eine Nacht erlebte. Doch ihre Haut schuppte immer mehr ab – die Fledermaus, die sie geweckt hatte, nahm grausame Rache.
    Und dann kam der Tag, als die Sonne sich über den Horizont erhob und ihr Licht durch die Bäume fiel, die hier wuchsen.
    Mary trug Nemoto zur Öffnung der Höhle. Sie war leicht wie ein Bündel aus Zweigen und getrocknetem Laub.
    Nemoto verzog das Gesicht. »Ich mag das Licht nicht«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Die Dunkelheit ertrage ich. Aber nicht das Licht. Ich sehne mich nach morgen. Denn morgen werde ich wieder etwas mehr wissen. Vermagst du mir zu folgen? Ich habe immer verstehen wollen. Wieso ich existiere. Wieso überhaupt irgendetwas existiert. Wieso der Himmel stumm ist.«
    »Sehnen nach morgen«, sagte Mary, um sie zu trösten.
    »Ja. Aber ihr interessiert euch weder für morgen noch für gestern. Und hier schon gar nicht, mit dem Langen Tag und der Langen Nacht, als ob ein Jahr aus einem endlos langen Tag bestünde.«
    Über ihr erschien ein einzelner heller Stern, der erste Stern seit dem Frühling.
    Nemoto schnappte nach Luft. Sie versuchte den Arm zu heben, vielleicht um auf etwas zu deuten, aber es gelang ihr nicht. »Ihr habt hier einen anderen Polarstern. Er steht irgendwo im Sternbild des Löwen in der Nähe des Himmels-Äquators. Eure Welt ist gekippt wie der Uranus, wie ein Kreisel, der auf der Seite liegt. Das ist durch den Einschlag verursacht worden. Also habt ihr für ein halbes Jahr, während der Pol auf die Sonne zeigt, ständig Licht; und für ein halbes Jahr Dunkelheit … kannst du mir folgen? Nein, sicher nicht.«
    Sie hustete und schien noch tiefer in den Fellen zu versinken.
    »Mein Leben lang habe ich nach der Erkenntnis gestrebt. Ich glaube, ich hätte das auf jeden Fall getan, egal auf welche von unseren 646
    zersplitterten Welten es mich verschlagen hätte. Und doch, und doch …« Sie bäumte sich auf. »Und doch sterbe ich allein.«
    Mary nahm ihre Hand. Sie war so zerbrechlich wie ein trockenes Zweiglein. »Nicht allein.«
    Nemoto versuchte Mary die Hand zu drücken. Aber es geriet nur zu einer hauchzarten Berührung.
    Und die Sonne glitt unter den Horizont, als ob sie um Verzei-hung bitten wolle.
    Mary legte sie in die Erde, in die Erde dieser Grauen Erde.
    Die Erinnerung an Nemoto verblasste, wie es Erinnerungen zu Eigen ist. Doch manchmal wurde Mary durch einen Geruch oder die salzige Meeresbrise an Emma erinnert, die nicht allein gestorben war.
    Emma Stoney:
    Allein.
    Ja, Malenfant, ich bin allein. Ich weiß, dass ich Gesellschaft habe – verschiedene Spezies des Homo superior, denen du nie begegnet bist, und die Hams, einschließlich deiner Julia, die nicht zur Grauen Erde zurückgekehrt sind. Aber ich bin trotzdem allein. Ich bin ein Maskottchen der Daimonen. Sie sind – freundlich. Genauso wie die Hams. Ich habe schier das Gefühl, in heißer Schokolade zu ertrinken.
    Ich habe beschlossen, zu gehen. Ich werde flussaufwärts gehen, ins Herz des Kontinents. Ich habe vor, mich wieder einer Horde Läufer anzuschließen, wie ich es schon einmal getan habe. Sie wissen, wo man Wasser und Nahrung findet und wie man da drau-
    ßen überlebt. Wenn jemand einen Weg durch die rote Mitte kennt, dann sind es die Läufer.
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    Ich will mir die Zielscheibe aus der Nähe ansehen, diese große vulkanische Blase. Obwohl sie vielleicht gar nicht so spektakulär ist.
    Wie du schon über Olympus Mons auf dem Mars gesagt hast: Zu groß, um vom menschlichen Auge in vollem Umfang erfasst zu werden, nicht? Aber diese kilometertiefen Schluchten am Fuß des Vulkans
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