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Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten.

Titel: Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten.
Autoren: Henry Slesar
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zukam, bereit, Susie und ihre leidende Mutter zu befreien. Sie sah sein Gesicht ganz deutlich vor sich, ein gutes, warmes Gesicht voller Tatkraft und Freundlichkeit. Manchmal verwechsel­te sie es mit dem Gesicht von Onkel Harold, nur daß On­kel Harold nicht annähernd so gut aussah. Er war nicht ihr richtiger Onkel, aber der engste Freund ihrer Mutter, viel­leicht ihr einziger Freund, und einmal, als Susies Stiefva­ter wieder sternhagelvoll und gemein war, hatten sie beide ein paar Sachen zusammengepackt und waren zu Onkel Harolds Hütte in den Poconos gezogen, wo der Onkel den ganzen Sommer zubrachte und als irgendwas für die Park­verwaltung tätig war. Das war Susies schönster Sommer gewesen, aber er hatte nicht lange gedauert. Eines Abends hatte sie gehört, wie ihre Mutter und Onkel Harold leise miteinander sprachen, zumeist über Geld, und ehe sie es sich versah, waren sie wieder in dem großen, im Kolonial­stil erbauten Haus in der Elm Avenue gewesen .
    Susie sah mit dem duldsamen, leicht amüsierten Blick eines Erwachsenen auf den Brief in ihrem Schoß. Dann zerriß sie ihn in kleine Schnipsel. Rock Hudson würde ihre Mutter und sie nicht vor dem Ungeheuer im Tweedanzug retten, das dort wohnte; sie wußte das mit kalter Gewiß­heit. Sie fühlte sich in den wenigen Minuten, die sie gera­de durchlebt hatte, erwachsen und weiser geworden.
    Sie ging nach unten. Das Hausmädchen Bella kam aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter, und als es Susie erblickte, fing das fette alte Huhn zu gackern an. »Nun sieh dir mal den Staub auf deinem Kleid an. Dafür wird dir deine Mut­ter eine Tracht Prügel verpassen.«
    »Wird sie nicht«, sagte Susie trotzig und schüttelte ihr dünnes Goldhaar.
    »Na gut, aber du kommst ihr besser nicht so unter die Augen. Ich weiß schon, wo du warst. Wieder da oben in der schmutzigen alten Dachkammer, wo du weiß Gott was getrieben hast.«
    »Was ist los, Bella?« Susies Mutter erschien auf halber Höhe der Treppe. »Was hat Susie angestellt?«
    »Fragen Sie sie selbst, Mrs. Grayson, ich bin doch kein Spitzel.«
    Murrend ging die alte Frau ihren Geschäften nach, und Susies Mutter sagte: »Was gibt’s, Susie? Wo hast du den ganzen Nachmittag gesteckt?«
    »Ich ... ich habe einen Brief geschrieben.«
    »An wen?«
    »Kann ich dir nicht sagen.«
    Das Gesicht ihrer Mutter, das wunderschönste, traurigste Gesicht der Welt, nahm einen unerklärlich ärgerlichen Ausdruck an.
    »Du wirst ein widerspenstiges, stures Ding. Antworte gefälligst – an wen hast du geschrieben?«
    »An Onkel Harold!« platzte Susie heraus.
    Die Reaktion ihrer Mutter war bestürzend. Sie ergriff Susies Arm, zerrte sie in ihr Schlafzimmer und schlug die Tür hinter ihnen zu.
    »Du sollst ihn hier nie erwähnen!« flüsterte sie wild. »Ich habe dir doch gesagt, daß du niemals über Harold reden sollst! Dein Vater wird dann sehr wütend.«
    Tränen stiegen Susie in die Augen. »Aber ich dachte, er wäre dein Freund ...«
    »Gib mir den Brief, Susie.«
    »Ich ... ich habe ihn zerrissen.«
    »Was hast du geschrieben? Was hast du Harold er­zählt?«
    »Ich habe ihm von … von Mr. Grayson geschrieben. Wie er sich betrinkt und dich schlägt …«
    »O Susie!«
    »Ich wollte, daß er uns hilft!« Susie schluchzte, und die Tränen erleichterten sie. »Ich wollte, daß er herkommt und uns rettet!«
    Plötzlich spürte sie die Arme ihrer Mutter um sich, die sie in mütterliche Wärme einhüllten. Sie sagte nichts mehr, sondern überließ sich ganz dem freudevollen Au­genblick. Ihre Mutter hielt sie umschlungen, bis die Trä­nen versiegten und sie sich müde fühlte.
    »Du verstehst diese Dinge noch nicht, Susie. Wenn du älter bist, dann vielleicht. Mr. Grayson ist kein schlechter Mensch. Er ist nur irgendwie krank, das ist alles …«
    »Ich hasse ihn!«
    »Susie, Susie«, sagte ihre Mutter. »So etwas darfst du nicht sagen, nie. Und du darfst Harold nie wieder erwähnen. Versprichst du mir das? Willst du das Mutter zuliebe tun?«
    »Gut«, murmelte Susie schläfrig und mit einem letzten Schluchzer. »Gut, Mutter …«
    Als sie an diesem Abend im Dunkel ihres Schlafzimmers dem Heimchen zuhörte, das sich auf ihrem Fensterbrett häuslich niedergelassen hatte, vernahm sie unten im Haus Stimmen.
    Sie sprang aus dem Bett und lief zur Tür, aber die Laute, die sie hörte, waren keine Wörter, sondern nur Melodien.
    Die eine war eine zornige, häßliche – der heisere Bariton ihres Stiefvaters; die andere war der tiefe,
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