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Das Molekular-Café

Das Molekular-Café

Titel: Das Molekular-Café
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wie die Notwendigkeit selbst.
Nun mußte geprüft werden, ob sie richtig war. Er gab dem
Automaten die erforderlichen Instruktionen und die Formel und wartete
geduldig, bis unter dem Geräusch der blitzschnell vibrierenden
Relais das erste Kunstwerk entstand, das nicht Menschenwerk war.
Endlich glitt aus dem Spalt ein steifer Karton. Smur verlängerte
die erwartungsvolle Spannung, schob den Augenblick hinaus, in dem er
die vollendete, aus der Präzision der Formel hervorgegangene
Schönheit erblicken würde. Schließlich ergriff er den
Bogen und näherte ihn dem Licht.
Er war mit einem komplizierten, rhythmisch wiederholten Ornament
bedeckt. Eine Unzahl von Arabesken tanzte ihm vor den Augen. Diese
Konstruktion, entstanden aus der Gesetzmäßigkeit, die sich
aus der eisernen Konsequenz der Formel ergab, bildete den Hintergrund
für den Kern dieses totgeborenen Werkes. Es war ein leerer,
weißer Kreis.
Smur traute seinen Augen nicht, er überprüfte alle Kontakte
des Automaten, die Richtigkeit der Instruktion, die Reihenfolge der
mathematischen Operationen, vergrub sich auf gut Glück in eine
Etappe der vorangegangenen Forschungen, wühlte sich von allen
Seiten in das mathematische Dickicht, das er mit höchster
Bewußtseinsund Willensanstrengung erfaßt hatte, um es zu
bewältigen und in einer Formel zu vereinigen.
Er fand keinen Fehler.
Er schaltete die Lampe aus und trat ans Fenster. Schwer und weiß
hing hoch droben am Firmament der Mond. Reglos stand Smur mit
geschlossenen Augen, kühlte die glühende Stirn an dem kalten
Metallrahmen, das Blut pochte in seinen Schläfen, und
Schwärme algebraischer Zeichen quälten wie lästige
Fliegen sein müdes Hirn und ließen es nicht zur Ruhe kommen.
Schließlich wandte er sich um und – erstarrte. In einer
Ecke des Zimmers, an der Wand, auf dem zweiten Schreibtisch leuchtete
noch ein Trionenbildschirm, der einzige, den er nicht ausgeschaltet
hatte. Er zeigte ein Werk, das Smur wenige Tage zuvor angefordert
hatte: den Kopf der Nofretete.
Alle Methoden der Topologie, des einzigen Zweiges der Mathematik, der
die Qualität untersucht, die große, allumfassende Theorie
der Gruppen und alle Netze der Formeln standen Smur zur Verfügung.
Nun legte er diese Schlinge dem bisher Unausgesprochenen, versuchte es
mit allen seinen geistigen Kräften zur Relation zu reduzieren, so
wie in der räumlichen Untersuchung ein Kristallgitter reduziert
wird. Den Gesetzen der Mathematik unterliegt doch jedes Atom, der Stein
wie das Gestirn, der Flügel wie die Flosse, der Raum wie die Zeit!
Wie sollte sich etwas gegen solch mächtiges Werkzeug behaupten?
Und nun stand auf dem Tisch, zwischen Apparaten und Logarithmentafeln,
im ruhigen Licht des Schirmes dieser hagere, strenge, gesammelte,
anmutige, zarte und doch so präzise Kopf – ein Gast aus
einem anderen Raum – und schien alle Hoffnungen Smurs
erfüllen zu wollen. Er war ganz und gar Mathematik,
Verkörperung und Sinnbild der Formeln, die von allen
möglichen Welten und der Lösung aller unmöglichen
sprachen. Die Bogen, mit denen der Hals in die Schultern übergeht,
sind wie zwei plötzliche Pausen im Dahinströmen einer
Symphonie. Das Gesicht unter der Pharaonenkrone mit den begehrlichen
Lippen, die alle Genüsse kennen, der goldene Schnitt des
Schweigens, ein unantastbares, unabhängiges Gebiet, zwang ihn in
die Knie. Und diese formvollendete Schönheit war mit
Meißeln, die vor fünfundvierzig Jahrhunderten ein
ägyptischer Bildhauer geführt hatte, aus einem Sandstein
herausgearbeitet worden! Smur trat an den Schreibtisch und löschte
den Mond durch das Licht der Lampen aus. Wie ein Blinder starrte er in
den bohrenden Blick Nofretetes und atmete schwer. Dann richtete er sich
auf, nahm die Komposition des Automaten und zerriß sie in winzige
Stücke. Sie flatterten wie weiße Blütenblättchen
zu Boden. Er war im Begriff, sein Arbeitszimmer zu verlassen. An der
Tür blieb et stehen und ging zu dem Elektronenhirn, drückte
auf den Knopf des Annihilators. Die Kontrollämpchen leuchteten
auf, die Ströme summten. Er stand vor dem Apparat und hörte
aufmerksam zu, als mit einem Geräusch, ähnlich dem Rascheln
dürren Laubes, die in monatelanger Arbeit geschaffene Theorie aus
den Metallwindungen des mechanischen Gehirns getilgt wurde, als der
denkende Mechanismus auf seinen Befehl für immer alles
vergaß, damit er, Smur, niemals eine bittere Erfahrung vergessen
konnte.
Ekkehard Redlin
Der Roboter und die utopische Literatur
    In der
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