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Das Möwennest (Het Meeuwennest) (German Edition)

Das Möwennest (Het Meeuwennest) (German Edition)

Titel: Das Möwennest (Het Meeuwennest) (German Edition)
Autoren: Christian Biesenbach
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in seiner Brust zu klopfen.
    Oben auf der Leiter erspähte er Sem. Der Sem, der ihn vorhin beinahe erwürgt hätte. Wo zum Teufel kam dieser Kerl jetzt her? Und wieso sollte Harry auf ihn warten? Ein weiteres Mal würde er nicht auf ihn hereinfallen.  
    Sem war langsam, weil er nur eine Hand für den Abstieg nutzen konnte. Er hatte innerhalb kurzer Zeit dennoch ein Viertel des Abstiegs gemeistert.
    Wenn Harry schnell war, wäre das Boot trotzdem zur Abfahrt bereit, ehe Sem den Anleger erreichte. Harry würde fliehen können und Sem - zusammen mit allem was geschehen war - hinter sich lassen. Hektisch kramte er in seiner Anglerhose, fand den Stift für den Seilzug und stürzte in Richtung des Außenbordmotors. Mühsam und beinahe blind stocherte er mit dem Haken in der Öffnung des Anlassers nach der Zugseilöse. Mit einigem Glück bekam er sie zu fassen, befestigte den Stift und warf den Motor an. Der gluckerte nach mehrmaligem Ziehen startbereit.
    Alles arbeitete für Harry. Sem war in der Mitte der Leiter und mühte sich an einer hartnäckig im Weg hängenden Querstrebe vorbei. Harry konnte das Tau lösen und wäre weit weg gewesen, bevor Sem das Boot auch nur annähernd erreicht hätte.
    „Harry, bitte lass mich nicht hier“, jaulte Sem von oben. Scheinbar wusste er, wie schlecht es um ihn stand.
    „Bitte. Ich flehe dich an. Nimm mich mit, Harry. Bitte. Ich war vorhin nicht ich selbst. Dachte, du wärest Ari. Bitte, glaub mir doch, Harry.“
    Aus dem Jaulen war ein panisches Schluchzen geworden.
    „Lass mich nicht alleine hier. Tu das nicht.“
    Unbeeindruckt davon löste Harry die Knoten am Anleger. Sem hatte ihn zu oft hereingelegt in dieser Nacht. Das war der Preis, den er jetzt dafür bezahlen musste.
    Harry warf das Tau ins Boot, dann setzte er sich auf die Rückbank und legte Hand an die Pinne. Es war Zeit diesen Ort zu verlassen. Seine Finger griffen nach dem Gasschalter.
    Doch dann überfiel ihn trotz aller Eile und allem innerlich lodernden Zorn plötzlich eine ungemeine Unentschlossenheit. Irgendwas in seinem Inneren setzte ihm zu und sperrte sich ganz und gar dagegen Sem hierzulassen. Seine Hand lag weiterhin am Drehgasschalter. Er musste ihn nur noch bedienen und weg wäre er gewesen, aber seine Finger rührten sich nicht. Etwas hinderte ihn und er merkte nicht, dass dies nicht sein eigener Wille war. Der Motor gluckerte weiter nur im Leerlauf.
    Was ihn in diesem Moment zögern ließ, blieb Harry für immer ein Rätsel. Vielleicht war es Mitleid oder das Grauen vor den Vorwürfen, die er sich gemacht hätte. Auf die Idee, dass es der Wille dieses finsteren Ortes war, der ihn zurückhielt, kam er jedenfalls nicht. Er wusste in diesen Sekunden nur, dass er kein Unmensch war. Er konnte nicht einfach einen Verletzten zurücklassen, auch wenn der ihm noch so sehr nach dem Leben getrachtet hatte. Also blieb er trotz des bedrohlich über ihm wankenden und in sich zusammenfallenden Gebäudes und trotz des dummen Gefühls, letzten Endes doch das Falsche zu tun, so lange an Ort und Stelle, bis Sem das Ausstiegsbrett erreicht hatte. Harry stand sogar auf, schnaubte ungeduldig und wollte Sem ins Boot helfen, aber der hatte andere Pläne.
     
    ***                          
     
    „Sehr gut, Harry“, zischte Sem in einem kalten Tonfall und wandte sich dem Boot zu. Einen Meter über Harry stehend, lachte er schallend auf und zog ein großes Messer aus seinem Gürtel. Sicher eines von denen, die in der Anrichte der Küche gesteckt hatten. Die Klinge war bedeckt mit schwarzem Möwenblut.
    Der Blick des völlig Wahnsinnigen trat ganz unvermittelt in Sems Gesicht, als hätte jemand in dessen Kopf einen Schalter umgelegt.
    Harry zuckte verstört zusammen. Das ist doch nicht möglich.
    Den gleichen Blick, die gleichen Gesichtszüge und den gleichen Ausdruck hatte er auch bei Ari Sklaaten erkannt, kurz vor dessen Absturz. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden, die sich ihm nunmehr offenbarte, war allerdings erschreckend.
    Verflucht. Das ist nicht Sem, das ist doch Sklaaten oder doch nicht?
    Harry wusste es nicht. Die Gedanken schossen durch seinen Kopf, ohne dass er sie zu fassen bekam.
    Und dann ging alles auf einmal sehr schnell.
    Zu schnell, um die neuerliche Gefahr schnell genug erkennen zu können.
    „Die Hand ist das Pfand“, kreischte Sem und sprang ins Boot. Mit einer schnellen Armbewegung erwischte er Harry mit dem Messer zuerst am Kinn und schlitzte die Haut bis zur Backe auf.
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